Autor:
Thomas Speck
Veröffentlicht am:
26. Dezember 2024

Weihnachten – Wie es wirklich ist

Eine friedliche, verschneite Berglandschaft bei Mitternacht am Weihnachtsabend. Im Hintergrund leuchtet eine gemütliche Almhütte warm und einladend durch die Fenster, das Licht reflektiert sanft auf dem Schnee. Umgeben von hohen, schneebedeckten Tannen und unter einem klaren Nachthimmel mit schwach sichtbaren Sternen vermittelt die Szene eine ruhige, zeitlose Weihnachtsstimmung inmitten der Natur.

In dieser besinnlichen Weihnachtsfolge nimmt Thomas Speck uns mit auf eine Reise durch die festliche Scheinwelt, die uns jedes Jahr auf das Neue den Schweiß auf die Stirn treibt. Weihnachten, dieses angebliche Fest der Liebe und Harmonie, entpuppt sich als ein perfider Marathon aus Erwartungen, Panik und dem verzweifelten Versuch, Perfektion in Geschenkpapier zu wickeln.

Es ist Heiligabend. Eigentlich sollte alles nach Zimt und Geborgenheit riechen, nach brennenden Kerzen und Wärme – diese berühmte Weihnachtswärme, von der alle reden. Ein Fest der Stille, in dem die Zeit kurz innehält, als würde selbst der Lärm der Welt eine Pause einlegen. Der Duft von Tannennadeln sollte wie ein Versprechen durch den Raum schweben – ein Versprechen von Frieden, von Harmonie. Lichterketten, die wie kleine Sterne im heimischen Kosmos funkeln, während draußen die Welt in Schnee gehüllt ist. Man stellt sich vor, wie Familie und Freunde in wohltuender Eintracht zusammenkommen, der Tisch gedeckt mit all dem, was das Herz begehrt: Gänsebraten, Rotkraut, dampfende Knödel – das ist es doch, nicht wahr? Das Bild, das wir alle im Kopf haben. Ein Bild, das wir festhalten wollen, weil es uns daran erinnert, dass es einen Ort gibt, an dem alles stimmt. Alles gut ist. Ein Moment, der uns die Zeit vergessen lässt – Zeit, die uns sonst mit Hektik und Getriebenheit ins Burnout jagt.

Ja, Weihnachten sollte eine Insel sein, ein Ort der Ruhe in einem Ozean aus Stress. Ein Ort, an dem man sich endlich fallen lassen kann, wo man der Welt entkommt, in dem man die Augen schließt und einfach… ist.

So zumindest in der Theorie.

Denn in der Praxis? Nun, in der Praxis riecht es heute Abend nicht nach Zimt und Geborgenheit, sondern nach Panik. Schweißtreibende, stressige Panik. Kein Wunder, denn der perfekte Weihnachtsabend lässt sich nicht in Geschenkpapier einwickeln.

Statt der träumerischen Ruhe herrscht hier ein Gehetze, als würde der Weihnachtsmann höchstpersönlich gleich mit einem Rotstift die To-do-Liste der Besinnlichkeit durchgehen. Das Essen, der Baum, die Geschenke – alles ein einziges Wettkampfereignis, bei dem das höchste Ziel lautet: Bloß nichts falsch machen. Nicht, dass Weihnachten zu einem Moment der echten Gefühle verkommt – wie peinlich wäre das denn!
Nein, Weihnachten muss funktionieren.
Perfektion bis ins kleinste Detail.
Sonst steht da nicht „Fest der Liebe“ auf der Fahne, sondern „totaler Familien-GAU“.

Der Baum ist nicht als Symbol für das Wachsen und Gedeihen der menschlichen Verbindungen, sondern als wackelnde, schiefe Mahnung an alles, was nicht stimmt.
Die Geschenke sind weniger Ausdruck von Zuneigung als eine Art stille Fehde:
„Schau, was ich dir gekauft habe – und schau, wie wenig du mich eigentlich kennst.“
Und die Gespräche?
Nun ja, die Gespräche sind der wahre Adventskalender der Vorwürfe – schön eingewickelt in glänzendes Papier, das sich höfliche Konversation nennt.

Während die Kerzen erlöschen und die Realität durch die Rauchschwaden kriecht, stehe ich also da, mitten im Chaos, und frage mich, ob wir alle vergessen haben, worum es hier eigentlich gehen sollte.

Alles begann – wie könnte es anders sein – mit dem Baum. Dem Baum! Dieses majestätische, grüne Monument der Hoffnung, das jedes Jahr als Symbol für Harmonie und Frieden gefeiert wird. Aber hier? Hier ist der Baum eine tickende Zeitbombe. Es gibt Vorschriften – und keine laschen Richtlinien, sondern die Art von ungeschriebenem Gesetz, bei denen selbst ein Zentimeter Abweichung den Weltuntergang ankündigt. Er darf nicht zu breit sein, nicht zu hoch, bloß nicht zu dünn (ein „magerer“ Baum – welch Blasphemie!), und um Himmels willen, keine Blautanne! Die falsche Sorte könnte schließlich den ganzen weihnachtlichen Kosmos ins Chaos stürzen. Der Baum muss schließlich Charakter haben – aber eben den richtigen.

Ich dachte ja, es wäre lächerlich, Bäume auf ihren Wuchs und ihre Sorte hin zu sezieren, aber hier geht es um absolute Präzision. Zwei Nadeln zu viel nach links, und wir steuern unweigerlich auf die Apokalypse zu. Ein schiefer Baum? Schief! Zwei Grad Abweichung, und plötzlich hängt das Damoklesschwert der verpfuschten Weihnacht über uns. Der gesamte Abend könnte an diesem Baum zerbrechen, wie eine mundgeblasene Glaskugel. Und während ich mein stilles Gebet zur Zimmerdecke schicke, hoffe ich inständig, dass der Baum diesen einen, heiligen Moment der Perfektion erreicht, bevor irgendjemand merkt, dass ein Ast nicht ganz so symmetrisch ist, wie er es laut ungeschriebenem Weihnachtsgesetz zu sein hat.

Währenddessen brodelt in der Küche eine Szenerie, die an eine schlecht organisierte Kriegsoffensive erinnert. Die Bio-Gans – der heilige Gral des ökologisch korrekten Weihnachtsessens – war dieses Jahr natürlich nicht mehr zu bekommen. Der Lieferant, der nur freilaufende, TCM-gestreichelte und in Dauerbeschallung mit positiv Affirmationen gehaltene Gänse aus nachhaltiger Waldwirtschaft führt, hat ausgerechnet am 23. Dezember Insolvenz angemeldet.
Die größte anzunehmende katastrophale der Festtagsküche ist eingetreten. Die einzige Alternative kommt aus dem Supermarkt. Ein Rollbraten. Ein trauriger Rollbraten, der das letzte Relikt der Fleischtheke war – als würde der Metzger selbst sagen: „Hier, mehr habe ich nicht. Friss oder stirb.“ Und da ist er nun, der Braten, in seiner ganzen banalen Trostlosigkeit, eingewickelt in Netz und Hoffnungslosigkeit, vor sich hin brutzelnd.

Man kocht ja nicht für sich allein – nein, nein. Man kocht für die Familie. Die eigene, versteht sich, die Heilige ist ja nur eine winzige Holznachbildung unter dem Baum.
Was wäre Weihnachten ohne das Festmahl im Kreis dieser wunderbaren Menschen, die sich sonst das ganze Jahr so erfolgreich meiden? Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen, schön vereint um den Tisch, während der Rollbraten wie eine stumme Mahnung in der Mitte thront.
Das hier ist die wahre Weihnachtserfahrung: Franz mit seinem ständigen Kauen, als würde er heimlich auf Kieselsteinen beißen, Tante Erna, die sich über die Kochkunst erhebt, während sie heimlich den Braten mit Ketchup ertränkt, und Cousin Bernd – Bernd, der sich mehr um den Nachschlag kümmert, als um das Gespräch. Ach ja, die Familie.

Während der Rollbraten leise knistert, frage ich mich, wie wir alle es schaffen, Jahr für Jahr dieses Ritual der familiären Zwangsidylle durchzuziehen, als wäre es das höchste der Gefühle. Weihnachten – das ist nicht nur das Fest der Liebe. Es ist der Marathon des Aushaltens, währenddessen ich überlege, wie ich meiner Zunge beibringe, wenigstens so zu tun, als wäre das hier ein Festessen und nicht das kulinarische Äquivalent eines Parkplatzes im Regen.

Nach dem feierlich runtergewürgten Mahl, wenn alle noch versuchen, den Geschmack des Rollbratens mit einer letzten Dosis Rotwein zu überdecken, beginnt die nächste Etappe des Weihnachtsspektakels: die Zeit, in der sich die Familie „gemütlich“ zusammenkuschelt. Es ist ein Bild für die Götter – oder für den nächsten IKEA-Katalog. Onkel Günther hat sich auf dem Fauteuil so breit gemacht, dass es aussieht, als würde er gleich mit dem Möbelstück verschmelzen, während Tante Erna versucht, auf der Couch noch irgendwie Platz für ihre selbstgestrickte Wolldecke zu finden. Bernd, natürlich, lümmelt bereits halb im Liegen, eine Hand auf dem Bauch, die andere griffbereit im Keks-Teller.

Und dann die Gespräche. Ach, wie ich diese Gespräche liebe, bei denen keiner so richtig zuhört, sondern jeder nur darauf wartet, bis er endlich wieder an der Reihe ist, sich über irgendwas zu beschweren. Es ist eine Art Sport – der Sprint des Desinteresses. „Na, und wie läuft’s im Job?“ fragt Onkel Günther, ohne auch nur einen Hauch von echtem Interesse in der Stimme. Ein Automatismus, ein Gesprächs-Knopf, der einmal im Jahr gedrückt wird. „Läuft prima,“ antworte ich mechanisch, während ich sehe, dass er bereits mental woanders ist, wahrscheinlich überlegt, wie er seine neue PV-Anlage möglichst elegant ins Gespräch einflechten kann. Mein Job? Ach, den hat er schon vor Jahren aus seinem Hirn gelöscht. Und ehrlich gesagt, das ist auch in Ordnung so. Wen interessiert schon, was ich den ganzen Tag mache, wenn doch die Frage „Hast du schon dein Haus klimaneutral gemacht?“ viel wichtiger ist.

Und so drehen wir unsere Runden im belanglosen Smalltalk-Karussell. Es geht nie wirklich um den Inhalt. Es geht um das Sprechen an sich. Als ob wir durch die reine Vibration unserer Stimmbänder diese illusionäre Blase des Zusammenhalts stabilisieren könnten. „Wie läuft’s in der Schule, Lisa?“ fragt Tante Erna, nicht dass sie sich je an Lisas Studienfach erinnern könnte. Wahrscheinlich hat sie die Frage irgendwo bei „Fragen, die Verwandtschaft beeindrucken“ abgeguckt, und Lisa murmelt irgendwas von „alles gut“, während sie ins Nichts starrt. Es spielt keine Rolle, was die Antwort ist. Hauptsache, das Gespräch läuft weiter. Man muss schließlich irgendwie die Zeit bis zu den Geschenken totschlagen, oder?

Es ist fast schon eine Meisterleistung der kommunikativen Ignoranz, wie es uns Jahr für Jahr gelingt, ganze Gespräche zu führen, ohne auch nur ein einziges Wort davon tatsächlich zu meinen. Man könnte fast glauben, das wäre die wahre Kunst des Weihnachtsabends – die Illusion, dass wir uns für einander interessieren.

Jetzt wäre eigentlich die Zeit, in der Weihnachtsgeschichten erzählt werden, nicht wahr? Diese herzlichen, erbaulichen Geschichten, die uns daran erinnern, was wirklich zählt im Leben – Zusammenhalt, Liebe und die Magie der Weihnacht. Aber das? Das hier ist kein besinnlicher Geschichtenerzählkreis. Nein, das hier ist der Auftakt zur größten Farce des Abends: die Geschenkeverteilung.

Wie immer wird das Ganze mit einer Andacht inszeniert, als ginge es um den Nobelpreis für Verdienste im Geschenkekauf. Mit einer beinahe sakralen Ernsthaftigkeit werden die Päckchen gereicht – und dann geht es los: das große Schauspiel der falschen Begeisterung. Man hört das Rascheln des Geschenkpapiers, und in den Gesichtern spiegelt sich eine Mischung aus vorsichtigem Optimismus und tiefer Sorge wider. Ein Wettkampf des gepflegten „Ach, das hättest du doch nicht machen müssen!“-Dialogs.

Tante Erna reißt ihr Päckchen auf und findet – Überraschung – einen Staubsaugerbeutel-Vorrat. „Oh, wie praktisch!“ ruft sie, während ihr Lächeln irgendwo zwischen Schockstarre und Höflichkeit feststeckt. Onkel Günther bekommt zum fünften Mal in Folge eine Flasche Rotwein, den er nicht trinkt, aber ins Regal stellen wird, weil man sich „ja nichts sagen lassen will“. Und dann Cousin Bernd – Bernd, der eine Thermoskanne auspackt, so als hätte er jemals vorgehabt, etwas anderes als Dosenbier zu transportieren. Er sieht das Geschenk an wie ein Alien, aber grunzt ein „Danke“, das so echt klingt wie das Lächeln einer Kuckucksuhr.

Und ich? Ich sitze da, umringt von all diesen glitzernden, funkelnden Überbleibseln des Konsumrauschs und frage mich, ob es nicht ehrlicher wäre, einfach Schenken ganz abzuschaffen. Denn nichts schreit so laut nach „Ich kenne dich eigentlich nicht“, wie ein Buch für jemanden, der seit der Schule keinen Buchdeckel mehr aufgeschlagen hat.

Am Ende des Abends, stehe ich draußen in der Kälte. Der Baum hat endlich aufgehört zu wackeln, als hätte er sich damit abgefunden, die Last der Weihnachtsideale zu tragen, und die versäumte Gans ist nur noch eine ferne Erinnerung an verpasste Gaumenfreuden.
Es schneit – natürlich nicht, denn das wäre viel zu kitschig.
Nein, es regnet, so wie es immer regnet, wenn man sich heimlich auf eine romantische Kulisse gefreut hat. Die Kälte beißt in die Haut, der Himmel ist wolkenverhangen, und die letzten Glühweinreste wärmen meinen Magen, als wäre das die letzte Bastion gegen die erbarmungslose Realität.

In diesem Moment, während die Regentropfen rhythmisch auf den Asphalt prasseln, denke ich über Weihnachten nach. Dieses Fest, das uns dazu zwingt, eine Rolle zu spielen. Eine Burleske der Perfektion, bei der jeder von uns so tut, als wäre alles in bester Ordnung, obwohl wir doch nur Menschen sind – mit all unseren Brüchen, Schwächen und Fehlern. Wir legen Lametta auf unsere Probleme, schmücken unsere Hoffnungen mit bunten Lichtern und versuchen, uns an einem Tag so zu verhalten, als wäre die Welt so perfekt wie die Instagram-Posts, die wir neidvoll betrachten.

Vielleicht ist das die wahre Besinnlichkeit: Das Eingeständnis, dass das perfekte Weihnachten gar nicht wirklich existiert. Dass die Harmonie, die wir so verzweifelt herbeizwingen wollen, eine Illusion ist. Ein Traum, den wir uns jedes Jahr selbst erzählen, weil es sich irgendwie besser anfühlt, an etwas zu glauben. Doch am Ende des Tages reicht es vielleicht, sich einfach zusammenzufinden – inmitten des Wahnsinns, der unerfüllten Erwartungen und der scheußlichen Geschenke. Das Chaos, das ungeschickte Lächeln beim Auspacken des falschen Präsents, die schiefen Bäume und die Gans, die nie ein Rollbraten sein wollte – das ist es doch, was am Ende bleibt. Nicht die Perfektion, sondern die imperfekte Schönheit des Zusammenseins.

Vielleicht ist das am Ende die wahre Bedeutung von Weihnachten – nicht die glänzenden Geschenke, nicht der perfekte Baum oder das exklusive Festessen. Weihnachten ist, was es wirklich ist: ein Sammelsurium aus unperfekten Momenten, einem schiefen Grinsen, einem verpassten Gaumenfreuden-Traum und einem Rollbraten. Es ist das ehrliche Chaos, das uns zusammenhält.

Weihnachten muss nicht perfekt sein, um echt zu sein. Vielleicht geht es darum, sich einzugestehen, dass man inmitten der Unordnung, der kleinen Katastrophen und der lächerlichen Traditionen das findet, was wirklich zählt: ein Stückchen Frieden, ein Lachen zwischen den Geschenken, ein Moment des echten Miteinanders – auch wenn es nur flüchtig ist.

Denn am Ende zählt nicht, wie Weihnachten ist. Es zählt, was Weihnachten ist – und das ist so viel mehr als die Summe seiner oberflächlichen Teile.
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Ironie – und vielleicht ein bisschen weniger Rollbraten. Das reicht eigentlich völlig.

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