Autor:
Thomas Speck
Veröffentlicht am:
12. Mai 2025

Warteschlange 9 – Dantes letztes Inferno

Warteschlange 9 - Dantes letztes Inferno - Cover

Zwischen Coupon-Königen, distanzlosen Schnäppchenjägerinnen, auditiven Dauerbeschallungen und dem ultimativen Endgegner – dem Vordrängler – offenbart sich ein Panorama menschlicher Verhaltensstörungen, das seinesgleichen sucht. Mit spitzer Zunge und unnachgiebigem Blick seziert Thomas das „soziale Schlachtfeld“ zwischen Einkaufswagen und Kassenterminal. Dabei wird der Supermarkt zur Miniaturhölle des modernen Daseins, in der Geduld zur Währung und Gelassenheit zur Superkraft wird.

Willkommen zurück zu einer weiteren Episode von „Der Schalltrichter“ – ich bin Thomas Speck. Heute nehme ich euch mit in eine der dunkelsten Ecken des Alltags – nein, nicht in den Keller voller ungeliebter Weihnachtsgeschenke oder die Tiefen der Familienfeiern. Wir gehen in die Hölle auf Erden: den Supermarkt.
Für die, die mich kennen, ist es kein Geheimnis, dass Einkaufen für mich ein notwendiges Übel ist. Ein verflixtes Schauspiel, das jedes Mal mein inneres Gleichgewicht ins Wanken bringt. Zwischen den neonbeleuchteten Regalen lauert das Gefühl der Machtlosigkeit, während die Marketingmaschinerie gnadenlos zuschlägt. Ein Spektakel der Manipulation, das einem die Illusion des freien Willens raubt. Ja, ich wünschte oft, ich wäre naiv und unwissend – das würde mir den emotionalen Overkill in diesen Tempeln der Täuschung ersparen.
Aber das Schlimmste kommt ja bekanntlich zum Schluss: die Kassenschlange. Diese infernalische Ausgeburt menschlicher Fauna ist der ultimative Test meiner Geduld. Sobald ich am Ende dieser fleischgewordenen Folterkammer stehe, habe ich das Gefühl, einen weiteren Höllenkreis zu betreten. Die Welt schrumpft auf den kleinen Raum um mich herum, und alles, was existiert, scheint nur dazu da zu sein, meinen Seelenfrieden zu zerstören.

Soziologie- und Psychologie-Studenten sollten ihre Dissertationen hier schreiben. Jeder Supermarkt sollte einen Studientisch neben jeder Kasse haben, damit zukünftige Therapeuten direkt aus erster Hand das menschliche Verhalten studieren können. Denn die Warteschlange bietet eine unverblümte Ansammlung von Minderwertigkeitskomplexen und Narzissmus, die in keinem Lehrbuch zu finden sind. Arroganz, Unsicherheit und Blasiertheit in all ihren schillernden Facetten – wenn man hier nicht den Glauben an den gesunden Menschenverstand verliert, dann ist man entweder schrankenlos abgestumpft oder ein unverbesserlicher Heiliger.

Da steht ein alter Mensch, halb taub und halb blind, der verzweifelt versucht, die Kassiererin zu verstehen und mit zittrigen Händen Kleingeld aus einer zerfledderten Börse zu fischen. Währenddessen brandet bei den hinter ihm Wartenden genervtes Seufzen auf wie eine Welle der Dummheit, begleitet von den brummigen Lauten halbstarker Nicht-ganz-Erwachsener. Ein Domino-Effekt der Rücksichtslosigkeit, der nur zeigt, wie weit wir moralisch gesunken sind.
Man stelle sich vor, dieser Mensch, der vermutlich den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, in einer Zeit, als Menschen noch echte Schwierigkeiten hatten, steht jetzt vor uns, gequält von der Angst, im Supermarkt ausgelacht zu werden. Und was macht das Pack hinter ihm? Unhöfliche Kommentare und arrogantes Augenrollen, weil sie eine Minute länger warten müssen. Eine Minute. Man fragt sich wirklich, welche Art von respektlosen Kreaturen da herangewachsen sind.

Da gab es diese … „Dame“ – Alter unbestimmbar denn ihr Gesicht war hinter einer zentimeterdicken Schicht Make-up versteckt – die ihren Betonbusen in meinen Rücken drückt und mir feucht ins Genick atmet, während sie über meine Schulter linst, als wäre sie eine lebendige Überwachungskamera. „Ja bitte?“ frage ich sie direkt ins Gesicht neben meiner Schulter. „Oh, Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe kommen,“ lügt sie, während sie immer noch in meinem persönlichen Raum steht. „Sind Sie aber,“ erwidere ich trocken. „Ich wollte nur sehen, ob es vorwärts geht…“
Was für eine jämmerliche Ausrede. Ich meine, wir haben Abstandsregeln – und nicht nur wegen Corona. Diese Art von distanzlosem Verhalten zwecks halberotische Anbiederung ist einfach nur grotesk und peinlich. Natürlich war mir klar, das sie bloß meine Aufmerksamkeit wollte, das macht es jedoch nur um noch eine Potenz peinlicher. Sie war denn auch umso beleidigter, als ich meinen Abstand einforderte. Ich gehe davon aus, das ihr euch vorstellen könnt, wie unangenehm ich werde kann, wenn man mir zu nahe rückt.

Das Mädchen das in der letzten Folge den dramatischen Liebeskummer hatte, stellte sich dann auch hinter mir an. Nicht zu überhören, selbst wenn ich sie nicht gesehen hätte, wüsste ich, das sie angekommen ist. Lautstark, mit ihrer typisch jammernden Tonalität, die man schon 2 Gänge zuvor gehört hat.
Sie ist ein Dauerquassler, ein wandelnder Lautsprecher, der jede Minute des Wartens nutzt, um endlose Gespräche zu führen. Sei es per Telefon oder mit einer bedauernswerten Freundin (wenn diese nicht desselben Gemütes ist), die sie mitgeschleppt hat – sie lässt uns alle an ihren unwichtigen Lebensdetails teilhaben. Lautstark erzählt sie von Bürokatastrophen und Liebesdramen, als würde jeder brennend daran interessiert sein, wie ihre letzten menschlichen Begegnungen liefen. Und sowieso sind bei ihr immer nur die Männer schuld an ihrer ganz privaten Misere – was sie uns alle wissen lässt.
Da stand sie also hinter mir. Und erzählte in sensationeller Lautstärke ihrem unsichtbaren Gesprächspartner von ihrem „super wichtigen“ Meeting, und ich konnte nicht anders, als mich zu räuspern und zu sagen: „ … ich habe heute nur Zeit für eine Podcastfolge, nicht für die komplette Staffel.“
Sie war kurz verdutzt, begriff aber nichtmal, das ich sie meinen könnte und setzte unbeeindruckt ihr Geplapper fort, nicht verstehend, das eigentlich sie selbst jene menschliche Katastrophe ist, über die sie in phonetischem Vollanschlag ins Telefon zeterte. Ich wünschte nur, ich hätte Oropax dabei.

Und wie könnte man den Gutschein-König vergessen? Dieser Mensch ist eine Ein-Mann-Armee, bewaffnet mit einer Lawine von Gutscheinen. Er zückt sie aus seiner Tasche und zwingt die Kassiererin, jeden einzelnen zu überprüfen, als hinge das Schicksal der Menschheit davon ab. Jeder Scan ein weiteres Martyrium, jede nicht akzeptierte Rabattkarte eine kleine Tragödie die intensivst ausdiskutiert werden muss.
Es ist kein Vergnügen, hinter so einem Gutschein-Ritter zu stehen. Der Mann zauberte unendlich viele Zettel aus seiner Jacke, als ob er die Zaubertricks von David Copperfield erlernt hätte. „Dieser Coupon ist abgelaufen,“ sagte die Kassiererin geduldig. „Aber ich habe ihn gerade erst ausgedruckt!“ protestierte der Herr verzweifelt. „ja, aber der war vor 1 Woche gültig“, „Warum haben sie den dann noch online?“ Selbst das Argument, das sie Kassierin sei und nicht Online-IT-Spezialist fruchtete gar nicht. Erst als die liebe Dame zugab, das Sie wohl höchstpersönlich vergessen hat, den Coupon aus dem Netz zu nehmen, setzte der Herr eine herablassend befriedigte Miene auf, so etwas wie eine „hab ichs doch gewusst“ Grimasse.

Der Gutschein-King paart sich gerne mit der Preisprüferin.
Die bemerkt erst an an der Kasse, dass sie den Preis jedes einzelnen Artikels überprüfen muss. Als wäre sie ein Teilnehmerin einer Testkaufshow, zückt sie ihr handy mit der Online-Preisliste und beginnt eine akribische Untersuchung.
„Entschuldigung, aber das stand im Regal als Sonderangebot,“ murmelt sie und zeigt auf einen Artikel nach dem anderen, während die Schlange hinter ihr wächst und wächst.
Nach 5 Minuten intensiver Preisdebatte fragte ich: „Haben Sie vor, hier eine Doktorarbeit über Preisdifferenzen zu schreiben, oder können wir irgendwann heute noch nach Hause?“ Die Kassiererin schmunzelte, die selbsternannte Preisprüferin nicht so sehr. Sie hat dann auch noch was von „manche müssen halt schauen, wo das Geld hingeht – wenn sie genug davon haben, schön, geht halt nicht jedem so gut …“ Völlig ingorierend, das man das eigentlich macht, wenn man die Sachen aus dem Regal holt und nicht erst an der Kasse. Zudem weiß wohl jedermann – Pardon – jedermensch – das der Preis an der Kassa gilt und nicht jener am Regal – auch Verkaufsmitarbeiter sind Menschen, die mal irren können.

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Und dann gibt es da den ultimativen Endgegner jeder Kassenschlange: den Vordrängler. Dieser Typus Mensch hat die Dreistigkeit im Blut und die Unverfrorenheit im Blick. Mit der Eleganz eines gestrandeten Wals und der Subtilität eines Presslufthammers zwängt er sich vor, als ob ihm die Welt und alles darin von Geburt an gehören würde.
Er hat immer eine Ausrede parat, die dünner ist als das Toilettenpapier im Discounter. „Ich hab nur eine Kleinigkeit!“ oder „Ich muss wirklich ganz dringend weiter!“ – als ob seine Zeit so viel wertvoller wäre als die der anderen Wartenden. Der Vordrängler ist die personifizierte Rücksichtslosigkeit, ein wandelnder Reminder dafür, dass Selbstüberschätzung und Egoismus keine Seltenheit sind.
Man erkennt diese Gestalten an ihrem ignoranten Gesichtsausdruck, der signalisiert: „Was wollt ihr schon machen?“ Die wartende Menge murmelt und tuschelt, aber selten traut sich jemand, den Konflikt offen auszutragen. Jeder kennt diese Typen – sie sind die Hochleistungspressen der Geduld, die es schaffen, selbst die friedlichsten Gemüter in Sekundenbruchteilen zu erbittern.

Wie so oft, stehe ich auch heute wieder hinter so einem Exemplar menschlicher Fehlentwicklung. Er glitt an mir vorbei, als ob er von unsichtbaren Flügeln getragen würde, und stellte sich vor die alte Dame, die bereits verzweifelt versuchte, ihre Einkäufe auf das Band zu sortieren. Ich fragte demonstrativ laut: „Entschuldigung, warum drängeln Sie sich vor?“ Ein Raunen des Staunens ging durch die Schlange, und der Vordrängler drehte sich um, als hätte ich ihm eine mathematische Gleichung gestellt.
„Oh, ich hab’s eilig,“ sagte er, während er sich bemühte, seine Unverschämtheit als Notwendigkeit zu tarnen. „Wir alle haben es eilig“ entgegnete ich, „aber wir haben auch noch ein Minimum an Anstand übrig. Versuchen Sie das mal.“ Er murmelte etwas Unverständliches, während er bezahlte und zog von dannen, kopfschüttelnd, als hätte er soeben das größte Unrecht in der Geschichte der Warteschlangen erlebt. Ich war befriedigt, obwohl der Knilch trotzdem 2 Plätze vor mir dran gekommen ist – im Nachhinein denke ich, ich war wohl zu gnädig.

Da war noch dieser eine Mann vor mir.
Der Typ „freundlicher Nachbar mit redseliger Seele und räumlichem Unverständnis für Abläufe in westlichen Kassensystemen“.
Kaum ist sein letzter Joghurt über den Scanner gerutscht, beginnt er ein Gespräch mit der Kassiererin, als würde sie ihm gleich den Taufschein seines Erstgeborenen überreichen.
„Na, auch wieder eine Woche geschafft, was? Heut ist’s ja richtig wuselig hier. Ich sag ja immer: Der Samstag ist der neue Montag!“
Er ist der Typ Mensch, der meint, die Kassiererin sei seine lang vermisste Brieffreundin – was er mit einem ausuferndes Gespräch über das Wetter, seine Bandscheibe und den Pfandbon vom letzten Donnerstag beweist.
Ich stehe dahinter, mein Eis schmilzt, mein Puls steigt – aber er sagt noch:
„Ich sag ja immer, man muss einfach mal nett sein.“
Währenddessen türmen sich seine Einkäufe zu einem instabilen Warenhaufen, der nur noch durch das Prinzip Hoffnung zusammengehalten wird.
Und genau in dem Moment, wo man glaubt: Jetzt zückt er das Portemonnaie, jetzt hat er es begriffen!, beginnt er… zu packen.
Langsam.
Bedächtig.
Mit der Präzision eines Archäologen beim Freilegen antiker Keramikscherben. Die Kassiererin steht regungslos da und der Mann sortiert seelenruhig sein zeug.
Jede Zucchini wird sanft gebettet, jedes Dinkelbrötchen erhält einen Ehrenplatz. Zwischendurch sinniert er laut über die Qualität von Radicchio in dieser Saison.
Die Kassiererin schweigt professionell.
Die Schlange hinter uns pulsiert vor Ungeduld und Anspannung.
Ich fragte mich, ob ich gleich eine Packhilfe anbieten oder einen Exorzisten rufen sollte.
„Ach wissen Sie“, sagte er dann noch, als wäre das alles ein Gesellschaftsspiel, „die Leute heute haben ja gar keine Geduld mehr.“
Ich nickte.
Sehr langsam.
In seinem Tempo.

Ein letzter Versuch, ihn in seiner Sprache zu erreichen – der natürlich an seiner Nonchalance abglitt wie ein Wassertropfen an Teflon. Wie kann man einem sozial gutmeinenden Saboteur auch mitteilen, das er genau deshalb stört, weil er freundlich ist? Wie begreiflich machen, das dies hier kein Tante Emma Laden von früher ist, wo Freundlichkeit geradezu fehl am Platze ist – es sei denn, man muss da arbeiten.

Die Leute kennen mich gut in diesem Laden, und ich schätze die Mitarbeiter dort sehr. Oft genügt ein Blick, ein Grinsen, um zu kommunizieren. Heute gibt es ein amüsiertes Augenzwinkern von meiner Lieblingskassiererin, die meine Situation versteht und versucht, meinen Ärger zu dämpfen.
Die eigentlichen Helden dieser Tragikomödie sind nämlich die Angestellten. Diese modernen Lohnsklaven, gefangen zwischen den Rüpeln, die damals schon Jesus aus den Tempeln vertreiben wollte, und den unschuldigen Seelen, die er zu schützen versuchte. Tag für Tag stellen sie sich den Launen der Menschheit, den unzufriedenen Kunden, den ignoranten Vordränglern und den schamlosen Dauertratschen.

Stellen Dir vor, Du müsstest täglich lächeln und freundlich bleiben, während ein Wust von Selbstgefälligkeit und Unhöflichkeit auf Dich einprasselt.
Sie alle müssen ruhig und professionell bleiben, obwohl so mancher, metaphorisch gesprochen, seinen Verstand wie einen scheppernden Einkaufswagen rückwärts durch die Gänge schiebt. Ihre einzige Waffe im Arsenal der Höflichkeit ist ein müdes, aber tapferes Lächeln.
Diese Angestellten sind die stillen Wächter des Supermarkt-Universums, die unbesungenen Helden des Alltags. Sie navigieren durch ein Minenfeld aus sozialen Missgeschicken und sind dabei stets darauf bedacht, den Laden am Laufen zu halten. Die Kassiererin, die geduldig jeden Coupon scannt, auch wenn sie genau weiß, dass der Rabatt nicht gilt. Der Regalauffüller, der ohne ein Wort der Beschwerde die fünfte Nachfrage nach einem Produkt beantwortet, das sich genau vor der Nase des Kunden befindet.

Während wir uns in den absurdesten Verhaltensweisen verlieren, bleiben sie standhaft und bewahren eine Professionalität, die fast übermenschlich erscheint. Jeder Augenblick ihres Arbeitstages ist eine Prüfung ihres Durchhaltevermögens und ihrer Gelassenheit.
Also, das nächste Mal, wenn ihr an der Kasse steht und euch über die Dauer des Wartens ärgert, denkt daran: Es gibt jemanden, der diese Absurditäten täglich durchlebt und trotzdem ein Lächeln auf den Lippen behält.

Wahre Helden des Alltags, die die Welt ein kleines bisschen besser machen – eine gescannte Ware nach der anderen.

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