Sensationsgeil – Wenn Medien zu Hyänen werden

In dieser eindringlichen Episode von der Schalltrichter setzt sich Thomas Speck mit der journalistischen Sensationsgier auseinander, die nach einer Tragödie sofort einsetzt – besonders in seiner Heimatstadt Graz. Statt über die Tat selbst zu sprechen, richtet er den Blick auf die mediale Inszenierung: Täterporträts, Nachbarschaftsreportagen und das stille Leid der Angehörigen werden ausgeschlachtet – im Namen der „Aufklärung“. Doch was wird hier eigentlich erklärt?
In der vergangenen Woche ist in meiner Heimatstadt Graz etwas geschehen, das man kaum in Worte fassen kann – und vielleicht soll ich das deswegen auch nicht versuchen.
Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, direkt über das Attentat zu sprechen. Nicht aus Feigheit, sondern aus Respekt und eben, weil mir die Worte fehlen. Was soll ich auch groß sagen? Was soll ich denn fruchtbringendes beisteuern?
Manchmal ist Schweigen das Lauteste, was man sagen kann. Ich werde das auch weiterhin so halten.
Was mich in den Tagen danach jedoch nicht mehr losließ – und was diese Folge zum Thema macht – ist das Echo, das sich sofort über alles legte: Die mediale Lautstärke.
Die Hast, die Jagd, das Stochern in Wunden, kaum dass sie zu bluten aufgehört hatten.
Die Reflexe der Branche waren schneller als jeder Rettungswagen.
Da wurden Bilder veröffentlicht, Wohnorte gezeigt, Täterprofile geschrieben, als würde man eine neue Serie promoten – alles unter dem Etikett: „Die Menschen wollen doch verstehen.“
Aber was bitte schön – was genau soll da eigentlich verstanden werden? Das hat schon in Littleton beim Columbine-Massaker nicht funktioniert. Es hat bei keinem weiteren School Shooting funktioniert. Nicht bei Breivik und den vielen die danach kamen. Und doch wird genau dieser Wunsch nach „Verstehen“ jedes Mal aufs Neue als moralischer Freibrief benutzt.
In dieser Folge geht es nicht um die Tat – sondern um das, was daraus gemacht wurde. Um Medien, die ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen, zu informieren, sondern zu inszenieren.
Und um die Frage, ob Journalismus im Angesicht des Grauens vielleicht einfach mal fünf Minuten den Mut zum Innehalten haben sollte.
Es ist noch früh am Tag den 10 Juni 2025, vielleicht 14 Uhr. Die Sonne scheint auf die bunten Türmatten einer steirischen Familiensiedlung. Ein paar Meter weiter stehen zwei Journalist:innen mit wartender Miene: ein Mikrofon, das aussieht wie ein überdimensionierter Zeigefinger, ein Kameramann mit der Geduld eines Habichts. Die Türklingel ist schon gedrückt, das Summen verklungen – oder war das nur der Tinnitus der Pietät?
Die Tür, an der sie klingeln, bleibt geschlossen. Doch aus dem Augenwinkel sehen sie Bewegung: Eine Frau, begleitet von ihrem älteren Sohn, schlüpft hastig an ihnen vorbei in eine andere Wohnung. Kein Wort, kein Blick. Das ist doch die Mutter des Attentäters! Aber nur ein kurzes Geräusch der schließenden Tür – wie ein endgültiges Nein. Auf ein weiteres Klingeln wird nicht mehr geöffnet.
Und so wird draußen notiert: „Die Mutter war da.“
Das genügt schon. Der Aufhänger steht. Die Geschichte kann beginnen – nur dass sie nicht die ihre ist.
Vielleicht beginnt jedes Unglück mit einem leeren Blatt. Aber es endet heute viel zu oft mit einer vollen Seite: Zitate, Nachbarn, Fotos von Storchendekorationen, die grotesker wirken als jede Schlagzeile. Die „Milde des Morgens“ bekommt in solchen Momenten, nach einem Verbrechen dieses Kalibers, eine zweite Bedeutung – sie ist die Zeit, in der Journalisten hoffen, dass die Betroffenen noch nicht misstrauisch genug sind. Der milde Morgen, der sich so brutal in eine Fratze eines grauenhaften Tages verwandelt hat, verwandelt sich auch in eine Morgendämmerung samt Aufbruchstimmung für Journalisten.
Es ist nicht Bosheit. Es ist reiner Betriebsablauf, der, um der Auflage willen, aus Entsetzlichem einen entkörperten Artikel machen will.
Die Frage, ob man an so einem Tag überhaupt klingeln sollte, wird nicht gestellt – oder besser: Sie wird als rhetorisches Hindernis abgetan. Denn: „Wenn wir’s nicht tun, tut’s ein anderer.“ Das ist nicht nur ein journalistischer Rechtfertigungsmechanismus – das ist die mediale Version von „Ich habe nur Befehle befolgt.“
So beginnt unsere Geschichte. Nicht mit der Tat, sondern mit der Reaktion. Nicht mit einer Frage, sondern mit einem Klick. Und sie endet – vorläufig – mit einem Dilemma: Was ist schlimmer? Ein Mensch, der in die Kamera weint? Oder einer, der dafür sorgt, dass es auch unbedingt gefilmt wird?
Die Tat ist kaum vollzogen, da beginnt bereits das zweite Schauspiel: die mediale Verwertung. Die Hyänen wittern die Schlagzeile, bevor das Blaulicht abgeschaltet ist.
Und wie es sich für erfahrene Raubtiere gehört, nähern sie sich nicht dem eigentlichen Geschehen, sondern der Randzone, dem weichen Fleisch: den Nachbarn, der Wohngegend, der Mutter. Alles, was nicht weglaufen kann, ist potenziell Beute und damit: zitierfähig.
Im Magazin profil erscheint bereits am Tag der Tat ein Bericht mit dem betont empathischen Titel: „Daheim beim Amokläufer“. Er beginnt mit der Beschreibung von Storchendekorationen an Balkonen – ein sanft ironisches Bild, das zwischen Gänsehaut und Geschmacklosigkeit schwankt. Hier wohnte der Täter, hier war er Kind, hier wurde er, wie es heißt, „nie irgendwie ungut“ wahrgenommen. Und genau dieses „nie irgendwie ungut“ wird zur dramaturgischen Vorlage einer Reportage, die das Privatleben eines Massenmörders in ein Panoramabild verwandeln soll.
Man hat geklingelt, sagt profil. Man wollte sprechen – man hat nicht gedrängt. Die Mutter, so wird betont, sei „zufällig da“ gewesen. Das wäre in etwa so, als würde ein Safari-Fotograf erklären, er sei zufällig im Löwengebiet mit offener Kamera gestanden – rein journalistisch, versteht sich.
Der Text ist durchzogen von Versatzstücken: eine ältere Nachbarin betet für die Mutter, ein junger Vater vermutet Mobbing, jemand erwähnt Kinderschuhe. Man könnte es ein Psychogramm nennen – wenn es nicht eigentlich ein Sozialporno wäre. Das Wohnhaus wird mit solch liebevoller Detailgenauigkeit beschrieben, dass Google Maps neidisch wird. Nur Namen und Hausnummern fehlen – aus Rücksicht. Die kann man sich ja notfalls aus anderen Medien zusammensuchen – man selbst bleibt ja anständig.
Aber der Rahmen ist gesetzt, die Erzählung eingeritzt: Der Täter als verlorener Sohn der Siedlung.
Dass ein Nachbar gleichzeitig ein Opfer zu beklagen hat – deren Tochter wurde vom Attentäter ebenfalls erschossen – ist in diesem Text nur eine Randnotiz. Kein Zitat, keine Träne, kein Schrei. Stattdessen: Kopfhörer, Türmatten, Tretroller und Zuhause beim Attentäter. Es ist der Versuch, das Alltägliche zum Schlüssel des Grauens zu erklären. Nur: Wer die Normalität erklärt, erklärt noch lange nicht die Abgründe.
Der Text liest sich wie ein Kriminalstück ohne Handlung, ein makabrer Hausbesuch unter dem Deckmantel der Aufklärung. Doch was wird hier wirklich aufgeklärt? Dass ein Mensch nicht wie ein Monster aussieht? Dass das Grauen eine weiße Tür und eine Gartenseite hat? Es ist völlig inhaltslos und bewirkt, nichts. Es gibt kein Resümee, keine Erkenntnis, keine Aufklärung. Es geht nur ans Eingemachte, möglichst nahe am Täter, möglichst emotional.
Der Journalismus, wie er sich hier zeigt, glaubt nicht nur an eine Informationspflicht – er glaubt an die Verwertbarkeit jedes Moments. Das Leid wird zur Landschaft, die Tat zur Topografie, das Schweigen zur Chance. Und genau das ist der Punkt, an dem das Schreiben selbst zur Gewalt wird – nicht weil es lügt, sondern weil es so gnadenlos ist.
In diesen ersten Stunden nach dem Attentat hat sich das Publikum noch nicht einmal gefragt, was es eigentlich wissen will. Aber die Medien haben bereits entschieden, was es zu wissen bekommt. Und der Text steht – viel schneller als betroffene Menschen überhaupt begreifen können, das sie selbst gerade sehr verwundbar sind.
Es gibt in der Geschichte des modernen Journalismus ein ganz besonderes rhetorisches Werkzeug. Es ist nicht der Investigativbericht, nicht das Exklusivinterview – es ist der Zufall. Er erscheint immer dann, wenn ein kritischer Blick droht. Er rettet die Redaktion aus jeder moralischen Klemme, er ist so zuverlässig wie das Wetter und ungefähr genauso beweisbar.
So auch hier: Die Mutter des Täters war ja nur „zufällig da“, als man im Stiegenhaus stand wo sie wohnt. Man habe lediglich höflich geklingelt, niemand wurde gedrängt, niemand gejagt. Klingt harmlos – wäre da nicht das unausgesprochene Ziel: Vielleicht hätte sie ja doch etwas gesagt. Vielleicht wäre man „das Medium“, bei dem sie als Allererste spricht. Vielleicht, ja vielleicht.
„Zufällig da“ – das ist der medienethische Äquivalent zu „Wir wollten ja nur fragen.“ Ein Satz, der klingt wie ein Taschentuch, aber wirkt wie ein Presslufthammer.
Die Verteidigung folgt prompt. Andere Medien seien ja auch vor Ort gewesen – BBC, Guardian, und sowieso alle großen Namen. Diese Argumentation ist so alt wie fragwürdig: Wenn andere mit dem Stiefel ins Schlammloch treten, wieso soll ich dann barfuß bleiben?
Was hier betrieben wird, ist kein Journalismus – es ist unethisches Speed-Dating. Man klingelt höflich, hofft auf ein Zitat, wartet drei Sekunden und zieht weiter, wenn keiner reagiert. Und weil man nicht drängt, sondern nur „anfragt“, nennt man das dann: Anstand.
Das Ziel bleibt aber offensichtlich: Vielleicht redet sie ja doch. Vielleicht werden wir die ersten sein, die sie zitieren können. Vielleicht ja wirklich?
„Zufällig da“ – das ist der medienethische Presslufthammer in Samt verkleidet. Er klingt harmlos, ist aber ein Türöffner ins private Elend.
Man muss sich klarmachen, was dieser „Zufall“ bedeutet: Da hat eine Frau gerade ihren Sohn an eine Tat verloren, die das Land erschüttert – und ihre größte Hoffnung darf nicht Trost sein, sondern dass keiner vor ihrer Tür steht. Aber es ist schon zu spät. Sie ist kein Mensch mehr. Sie ist potenzielle Quelle. Und weil sie nicht spricht, wird sie notiert.
Dass Frau Thalhammer, die profil-Chefredakteurin, auf Kritik reagiert, ist grundsätzlich positiv. Dass sie dies mit einem Vergleich zu anderen Medien tut, ist weniger ein Argument als ein Reflex. Es ist Whataboutismus in Sonntagskleidung: „Die anderen waren auch da und viel weniger zimperlich.“ Doch man kann nicht ernsthaft Qualität einfordern, indem man sich an Mittelmaß misst.
Und was bleibt? Eine Mutter, die nicht sprach. Eine Tür, die sich schloss. Und eine Branche, die diesen Umstand wie einen Scoop behandelte. „Sie war da, zufällig“, das reicht. Mehr braucht man nicht, um den moralischen Joker zu spielen.
Dabei wäre die einzig richtige Handlung in diesem Moment gewesen: nicht zu klingeln.
Aber das hätte keine Geschichte ergeben. Und kein Zitat. Und kein Bild.
Nur Würde.
Und die klickt sich eben schlecht.
Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf – und dein Sohn ist ein Massenmörder.
Nicht in einem Film, nicht in einem Albtraum, sondern in deiner Wohnung. In deinem Leben. Und was zurückbleibt, ist nicht nur ein leerer Platz am Küchentisch, sondern ein gigantischer Krater im Selbstbild, der tief in dein Innerstes reicht.
Was hast du übersehen? Was hast du falsch gemacht? Hast du versagt – oder einfach nur nicht gewusst?
Fragen wie Rasierklingen. Und keine einzige Antwort, die nicht blutet.
In dieser neuen Welt, in die man als Angehörige eines Täters geworfen wird, ist nichts mehr sicher. Nicht das Zuhause, nicht das eigene Spiegelbild, und ganz sicher nicht die Türklingel. Denn da draußen stehen sie schon. Mit Notizblock und Mikrofon, bereit, deine Trauer in eine Story zu verwandeln.
Und du weißt: Ab jetzt bist du nicht mehr nur Mutter – du bist „die Mutter“.
Du wirst nie wieder anonym sein. Dein Gesicht, dein Haus, deine Vergangenheit – alles wird zur Kulisse für das große mediale Interesse. Deine Stille wird interpretiert, deine Tränen zu Deutungsmaterial. Und während du noch versuchst zu verstehen, wie all das geschehen konnte, schreiben andere längst die Erzählung deiner Rolle.
Dabei hat dich niemand gefragt, ob du diese Rolle überhaupt spielen willst. Du bist nicht Täterin, nicht Opfer, nicht Zeugin. Du bist etwas Neues: eine Projektionsfläche für Schuldfragen, ein ethisches Vakuum, das gefüllt werden muss – am besten bis Redaktionsschluss.
Vor der Tat warst du Mutter. Und jetzt bist Du nur noch eine Nachricht.
Was dich schützt, ist nicht mehr das Recht auf Privatsphäre. Was dich schützt, ist höchstens deine Fähigkeit, die Tür rechtzeitig zu schließen. Und selbst dann wirst du nicht vergessen – du wirst notiert. In einem Halbsatz, in einem Nachsatz, in einem Nebensatz. „Sie war da.“
Man sagt, Medien müssten informieren. Aber worüber eigentlich – und für wen?
Was genau hat die Welt davon, zu wissen, wo du wohnst, wie alt dein zweiter Sohn ist, ob dein Vorname auf dem Klingelschild steht?
Hier geht es hier gar nicht um Information. Vielleicht geht es darum, aus der Nähe der Katastrophe einen moralischen Mehrwert zu extrahieren.
Als ob deine Verzweiflung ein brauchbares Zitat wäre. Als ob dein Schweigen ein journalistischer Beleg wäre.
Du bist ein Mensch. Und noch dazu der letzte Mensch, den irgendjemand an diesem Tag hätte befragen sollen.
Die Wahrheit ist nämlich: Auch du bist ein Opfer.
Du hast dein Kind verloren. Du hast dein Leben verloren. Und du hast nicht darum gebeten, zum Gegenstand einer öffentlichen Erzählung zu werden. Du brauchst keine Reporter. Du brauchst keinen Bericht. Du brauchst Ruhe.
Aber die bekommst du nicht.
Du bekommst ein Schlagzeile.
Wenn ein Mensch zehn andere tötet, ist das eine Tragödie.
Wenn Dutzende Medien sich darauf stürzen, wie es hier geschehen ist, wird daraus ein Buffet des Entsetzens – jeder nimmt sich, was ihm passt.
Da ist das Täterfoto – klar und ungepixelt. Das Klassenzimmer-Video – kommentiert und interpretiert. Die Schilderung, wie Kinder sterben – seitenfüllend. Ein Schüler, der erzählt, wie seine Lehrerin erschossen wurde – zur Primetime.
Worum geht es dabei? Um Aufmerksamkeit. Marktanteile. Ein Rennen, bei dem Qualität längst überrundet wurde.
Natürlich: Einige verpixeln, andere verzichten auf Namen. Doch im Kern bleibt der Reflex: schneller sein, näher ran.
Und was als Information auftritt, wird zur Reinszenierung des Grauens.
Dass diese Berichterstattung Nachahmer inspirieren kann, ist belegt – siehe auch die Bombendrohungen der darauf folgenden Tage – spielt aber kaum eine Rolle. Hauptsache, das Material läuft. Hauptsache, wir sind nicht die Letzten.
Und so stellt niemand mehr die eigentlich einfache Frage:
Was zeigen wir – und warum?
Stattdessen gilt: Was die anderen zeigen, müssen wir auch.
Zurückhaltung ist ein Risiko – das kostet Klicks. Und Klicks sind die neue Ethik.
Während Redaktionen „Verantwortung“ sagen, agieren sie wie Marktschreier mit Presseausweis.
Es ist kein Boulevard mehr. Es ist Konsens.
Und das System füttert sich selbst – mit Tränen, Trauma und Tragödie.
Bis die Öffentlichkeit satt ist – und trotzdem weiterliest.
Es gibt ein stilles Mantra in vielen Redaktionen, das nie ausgesprochen wird, aber dennoch überall mitschwingt:
„Was gut geklickt wird, kann so falsch nicht sein.“
Das ist die kleine Schwester der Quote, die große Cousine des Algorithmus, und das entfernte, unheimliche Patenkind der Empathie. Und es ist das Mantra, das Medienhäuser heute antreibt wie früher Ideale.
Ethik?
Das war einmal ein eigenes Ressort. Heute ist sie ein Disclaimer im Redaktionschat. Eine Fußnote in der Produktionsbesprechung. Oder – wie im Fall profil – ein Absatz zur Selbstrechtfertigung unter einem Artikel über den Wohnblock eines Massenmörders.
Der stv. Chefredakteur schreibt dort von „journalistischem Anstand“, davon, dass man niemanden bedrängt habe, keine Namen genannt, alles freiwillig, alles korrekt. Und ja, formal mag das stimmen. Nur: Ethik ist kein Formular. Und auch kein Schutzmantel aus Allgemeinplätzen. Ethik beginnt dort, wo keine Regeln mehr helfen – nur Haltung.
Journalismus ist kein reines Dienstleistungsgewerbe. Er ist nicht dazu da, alles zu liefern, was das Publikum sich wünschen könnte. Wer in der Wüste schreit, will vielleicht Wasser – aber man gibt ihm doch kein Benzin, nur weil es auch flüssig ist.
Die legitime Aufgabe von Medien ist: aufklären, hinterfragen, einordnen. Aber nicht: abbilden, was am meisten aufrüttelt. Nicht: bedienen, was am meisten zieht.
Aber genau das passiert – und zwar täglich. Nicht weil Redakteur:innen schlechte Menschen wären. Sondern weil das System selbst so gebaut ist. Und weil niemand der Erste sein will, der Stopp ruft – aus Angst, der Letzte zu sein, der gehört wird und weils sichs halt gut verkauft.
Eine Mutter bleibt auf der Strecke? Ja, tut leid, aber wir sind Zeitung, dass muss halt so.
Es ist ein perfider Tauschhandel geworden: Moral gegen Reichweite.
Und die Marktlogik ist unbestechlich: Wer zu spät berichtet, verliert. Wer zu vorsichtig ist, wirkt lahm. Wer ethisch denkt, muss erklären – und wer erklärt, ist im Ticker-Zeitalter immer eine Schlagzeile zu spät.
So wird aus der Frage „Darf ich das?“ schleichend ein „Kann ich mir leisten, es nicht zu tun?“
Und damit ist die Ethik nicht mehr Maßstab, sondern Marketing.
Dabei wäre es so einfach, einmal zu sagen:
„Nein.“
Nein zu Täterbildern. Nein zu Elternhausromantik. Nein zu Interviews mit Jugendlichen, die gerade ihre Freunde sterben sahen.
Nicht weil es gesetzlich verboten ist. Sondern weil es menschlich geboten wäre.
Doch dieses Nein hat einen Preis. Und dieser Preis heißt: weniger Klicks, weniger Reichweite, weniger „Relevanz“. Ein Wort, das in Redaktionen mittlerweile wie das heilige Gralwasser gehandelt wird – verdünnt mit Zahlen und gesegnet von Google Analytics.
Aber:
Relevanz entsteht nicht durch Reichweite. Sie entsteht durch Verantwortung.
Und genau da versagen viele Medien – nicht einzeln, sondern kollektiv.
Man kann Ethik nicht nachreichen wie eine Korrektur. Sie ist entweder Teil des Prozesses – oder sie ist ein billiger Nachruf auf das, was Journalismus einmal war.
Nun stelle ich mir vor, es wäre etwas Unfassbares geschehen. Und niemand würde sofort darüber schreiben.
Nicht weil man es ignoriert. Sondern weil man nachdenkt.
Keine Eilmeldung mit halben Fakten, keine Mikrofone im Gesicht von Kindern, keine Kameradrohnen über Schulhöfen. Stattdessen: ein Tag der Stille. Ein Tag der Rücksicht. Ein Tag, an dem Redaktionen nicht rennen, sondern innehalten.
Ja, Unvorstellbar, nicht wahr! Und genau das ist das Problem.
Wir haben uns so sehr an den Echtzeit-Reflex gewöhnt, dass die Idee von journalistischer Geduld wie ein Anachronismus wirkt. Dabei wäre sie eine Sensation im besten Sinn: eine, die das System durchbricht.
Aber was wäre, wenn Medien nicht sofort erklärten, was passiert sei – sondern zunächst nur feststellten, dass etwas Schreckliches passiert ist, und dann für 24 Stunden nur eins tun würden: schweigen. Sammeln, Sichten und Begutachten.
Weil sie sich Zeit nehmen, um zu begreifen, was sie sagen sollten. Und wie. Und ob überhaupt.
Was wäre, wenn man Täter nicht mehr zeige – nicht verpixelt, nicht verschwommen, nicht stilisiert.
Was wäre, wenn man keinen Nachbarn befrage, keine Familie porträtiere, keine Wohnung beschreibe?
Was wäre, wenn der Journalismus die erste Branche wäre, die aufhört, reflexartig zu reagieren – und beginnt, bewusst zu verzichten?
Das wäre kein Rückzug. Es wäre eine Entscheidung.
Eine Rückeroberung der eigenen Würde – und die der Betroffenen.
Aber natürlich passiert das nicht.
Denn der Markt funktioniert nicht so. Wer still ist, verliert Reichweite. Wer nicht sendet, wird überhört. Und wer zögert, steht schnell als Zauderer da – in einer Zeit, die Handlungsfähigkeit mit Geschwindigkeit verwechselt.
Vielleicht braucht es nicht gleich den großen Umbau. Vielleicht reicht es, wenn wir bei der nächsten Tragödie nicht gleich alles wissen wollen. Wenn wir an Redaktionen schreiben: „Danke, dass ihr diesmal nicht alles gezeigt habt.“
Vielleicht sind fünf Minuten Nachdenken ein Anfang.
Vielleicht entsteht Verantwortung nicht aus Regeln – sondern aus Haltung.
Aus der Bereitschaft zu sagen: „Nur weil wir dürfen, heißt das nicht, dass wir es müssen.“
Vielleicht – und das ist der größte Konjunktiv –
wäre Würde am Ende sogar klickbar.
Ich frage mich, was passiert wäre, wenn an jenem Tag in der steirischen Siedlung einfach niemand geklingelt hätte.
Keine Reporter, kein Mikrofon, keine Frage, kein Auftritt. Nur die Sonne auf den bunten Türmatten. Nur der stille Gang einer Mutter, die versuchte, in ihre Wohnung zu kommen – ohne notiert zu werden.
Wahrscheinlich wäre gar nichts passiert. Keine Story. Kein Scoop.
Kein Kommentar über Medienethik.
Keine Debatte über Sensationslust und journalistische Verantwortung.
Vielleicht – und wieder ein Konjunktiv – wäre das für einen kurzen Moment genau das Richtige gewesen.
Denn die stillste Stimme in einem Raum ist nicht die, die nichts sagt.
Es ist die, der niemand zuhört.
Diese Stimme war da.
In Graz.
In vielen anderen Städten davor.
In Schulen, in Gängen, in Wohnzimmern, in Köpfen.
Und sie wurde übertönt – vom Geräusch der Kameras, vom Tippen auf Tastaturen, vom Rauschen der Schlagzeilen.
Aber sie ist noch immer da.
Und sie fragt nicht nach Klicks. Sie fragt nicht nach Anteilnahme.
Sie fragt nur: Muss das wirklich sein?
Vielleicht ist das der wahre Auftrag des Journalismus.
Nicht alles zeigen. Nicht alles wissen. Nicht alles sofort.
Sondern: Innehalten.