Autor:
Thomas Speck
Veröffentlicht am:
26. September 2025

Nur noch dieses Eine – Warum der Kaffee wieder kalt wird

Nur noch dieses Eine – Warum der Kaffee wieder kalt wird - Cover

Ein kalter Kaffee, ein Zauberwürfel und die unsichtbare Macht der Algorithmen – genau darum geht es in dieser Episode des Schalltrichters. Algorithmen steuern längst nicht mehr nur unsere Routen im Navi oder die Playlist am Morgen, sondern auch, was wir sehen, kaufen, fühlen – und manchmal sogar, was wir verpassen. Von Dijkstra bis YouTube, von lokalen Optima bis globalen Sehnsüchten.

Ein Algorithmus hat dich zu diesem Podcast geführt.
Ein anderer hat heute Morgen deine Route so gelegt, dass du die Baustelle umfahren konntest.
Und wieder einer sorgt vielleicht dafür, dass du einen Job hast, zu dem du fahren kannst.
Davon abgesehen, dass du diesen Job vielleicht gerade verlierst, weil du diesen Podcast während der Arbeitszeit hörst: die wirklich schlimmen Konsequenzen kommen erst noch.

Aber erstmal ganz von Anfang:
Morgens um sieben faucht die Espressomaschine wie ein beleidigter Kater.
Mein Kaffee riecht nach Wachwerden, aber er sieht aus wie ein schwarzer Spiegel.
Darin schwimmt mein Gesicht – leicht verknittert, als hätte die Nacht versucht, Origami aus mir zu machen.
Draußen macht der Bäcker sein Rolltor auf, das klingt wie ein „Guten Morgen“ aus Metall.
Im Stiegenhaus klirrt ein Schlüsselbund, ein Fahrrad klingelt am Bäcker vorbei, und hinter den Häusern schiebt sich langsam die Sonne durch die Wolken.

Man hört es förmlich: erst die einsamen Schritte der Frühaufsteher, dann die ersten Motoren, schließlich dieses diffuse Rauschen, das entsteht, wenn tausend kleine Einzelgeräusche sich zu einem einzigen Summen verweben.
Mein Handy liegt neben der Tasse auf der Arbeitsplatte, Bildschirm nach oben, wie ein Haustier, das gelernt hat, sich auf Kommando tot zu stellen. Aber wehe, ich tippe es an: Sofort springt es auf wie ein Terrier, der ein neues Kunststück zeigen will.
„Entsperre mich“, flackert es, „ich hab was für dich.“

Und natürlich wische ich. Links Fingerabdruck, rechts Social Media – die Bewegung ist so routiniert, dass ich sie auch mit Handprothesen im Tiefschlaf hinkriegen würde. Zack, die erste Benachrichtigung: „25 neue Posts – nur für dich.“
Ich nippe Kaffee, ich tippe, ich nicke und der neue Tag leuchtet am Display.
Er sagt „Folge mir – ich bin dein Wegweiser.“
Oder kürzer: ein Algorithmus.

„Nur für dich“, das klingt nach Intimität. In Wahrheit heißt es: Ein Haufen Codezeilen hat errechnet, was mich wahrscheinlich länger fesselt als mein Kaffee heiß bleibt.
Wir reden oft von Algorithmen, als wären es mythische Wesen – halb Engel, halb Dämon, irgendwo zwischen Schicksal und Science-Fiction. Aber im Kern sind sie nur „Wenn-Dann“ Befehle.
Wenn die Ampel grün ist, dann gehen. Wenn du gestern eine Satire gesehen hast, dann bekommst du heute mehr Satire. Wenn auf Route A Stau ist, dann nimmt man B und wieder zurück.
Das ist nicht unheimlich, es ist bloß gründlich.

Und klingt banal. Algorithmen sind nicht kompliziert, sie sind nur verschachtelt: eine endlose Abfolge von Entweder-Oder Bedingungen.
Das ermöglicht einer denkfreien Maschine, wie einem Computer, ein komplexes Problem zu lösen. Aber sobald Millionen solcher Ketten verschachtelt sind, bewegt man sich plötzlich wie auf Schienen. Und wer mal auf Schienen fährt, merkt nicht, dass er nicht mehr lenkt.
Ich habe das mit vierzehn zum ersten Mal begriffen. Da gab es ein Mädchen in der Parallelklasse, das mir wichtiger war als jede Schulnote. Aber wie nähert man sich, wenn man selbst aussieht wie eine Mischung aus Antipickelwerbung und schlecht geschnittener Topfpflanze?
Gitarre lernen war mir zu peinlich – ich hätte vermutlich schon beim Stimmen eine Saite gekillt. Gedichte? Viel zu kitschig (fragt nicht, woher ich das weiß). Also griff ich zum Rubik’s Cube. Den konnte man im Bus lösen, ohne ein Wort zu sagen, und trotzdem irgendwie Eindruck machen. Das war mein Masterplan: Nicht Goethe, nicht Hendrix – sondern ein Zauberwürfel aus Plastik in Regenbogenfarben.
Drei Wochen später konnte ich ihn tatsächlich lösen. Nicht, weil ich das Prinzip verstanden hätte, sondern weil ich stur die Abfolge gelernt hatte: rechts hoch, oben rüber, rechts runter, oben zurück. Immer wieder, bis es klick machte.

Und da saß ich dann im Bus, die Fenster beschlagen, der Geruch nach nassen Schuhen im Gang – und hielt den gelösten Würfel in der Hand. Ich sah mich im Fensterglas gespiegelt: der Sieger über 43 Trillionen mögliche Kombinationen. Und direkt daneben: das Mädchen, das mich nicht einmal bemerkte.
Der Algorithmus hatte geliefert, nur: Das war nicht die Lösung, auf die ich gehofft hatte. Was ich eigentlich wollte, war, dass dieses Mädchen mich mag. Heute weiß ich: Der Abstand zwischen dem, was man bekommt, und dem, was man sich eigentlich ersehnt, ist erschreckend weit.

Zum Warmwerden noch ein ganz fundamentaler Algorithmus: Dijkstra – der „Urvater“ aller Navigationsalgorithmen.
Der Dijkstra findet Schritt für Schritt immer den kürzesten Weg vom Startpunkt zu allen erreichbaren Punkten in einem Netzwerk – zum Beispiel Städte in einem Netzwerk aus Strassen.
Er markiert von jedem Startpunkt aus die Distanz, nimmt den kleinsten Wert jeder Kreuzung zur nächsten, rechnet weiter, bis das Ziel erreicht ist. Diese Grundlage ermöglicht deinem Navi, eine Route zu berechnen. Effizient – aber auch kurzsichtig.

Denn es gibt ein Problem mit Algorithmen wie Dijkstra: Sie sind gierig.
Und damit meine ich nicht nur, dass sie von gierigen Konzernen eingesetzt werden, um Konsumverhalten zu manipulieren (was stimmt), oder dass sie von selbsternannten „KI-Profis“ genutzt werden, um ihre Produktivität angeblich zu verzehnfachen, ohne selbst kreativ zu sein (was auch stimmt).
Nein, Algorithmen sind mathematisch gierig, weil sie in jedem Schritt immer nur die kürzeste Lösung wählen.
Ich demonstriere das hier im Studio. Mein Ziel: Vom Eingang bis möglichst nah ans Mikrofon zu kommen. Der Algorithmus sagt: „Nimm den direkten Weg in den Raum“ Also gehe ich immer dorthin, wo es scheinbar kürzer ist. Um die Kommode herum, an das Mischpult – Schritt für Schritt. Bis ich schließlich tatsächlich am nächsten Punkt dran bin – nur eben hinter dem Mikrofon.
Technisch gesehen: der Algorithmus hat buchstabengetreu seine Mission erfüllt.
Menschlich gesehen ist es eine Katastrophe. Denn aufnehmen kann ich so nicht.

Das ist die Krux vieler Algorithmen: Sie finden lokale Optima – kleine Siege am Wegesrand – und verpassen dabei das große Ganze. Mathematisch ist das sauber; Praktisch ist es aber absurd.
Oder poetischer: Code kann rechnen, aber nicht hoffen, das es etwas besseres gibt.
Es ist wie beim Zauberwürfel: das Problem ist gelöst, aber der Junge träumt trotzdem noch immer von seiner ersten Liebe.

All das wäre völlig harmlos, wenn es nur bei berechneten Routen bliebe. Das tut es aber nicht.
Denn genau diese Kurzsichtigkeit prägt heute unsere Feeds. YouTube, TikTok, Instagram – sie sind wie Dijkstra auf Speed: Sie nehmen, was du magst, kombinieren es mit dem, was Menschen wie du mögen, und geben dir noch mehr davon. Eine endlose Abfolge lokaler Optimum-Schleifen. Und weil das nur mit „Wenn–Dann“ funktioniert, kann er sich nichts außerhalb dieser Schleifen vorstellen.
Ein Mensch könnte dich überraschen, dir etwas vorsetzen, das du erst ablehnst und später lieben lernst. Ein Mensch könnte dir etwas Schwieriges geben, das unbequem ist, aber wichtig. Ein Algorithmus dagegen will nur eins: Retention. Das klingt wichtig, heißt aber nur: Hauptsache, du bleibst dran, wie eine Fliege am Klebestreifen.

Darum verliere ich manchmal vier Stunden auf YouTube, ohne zu wissen, was ich eigentlich gesehen habe. Früher, so um 2007, hat mir YouTube nach einem Motorradvideo auch mal ein Fahrradvideo vorgeschlagen – ein digitaler Kellner, der freundlich fragte: „Darf’s noch etwas anderes sein?“
Heute ist das anders. Mein Bildschirm wirkt wie ein Daten-Sommelier: Er schenkt mir den Feed ein wie einen Prädikatswein – wohltemperiert, abgestimmt auf meine Zunge, perfekt kalkuliert. Überraschung ist Fehlanzeige.

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Es gibt also keine Überraschungen mehr. Denn Überraschung kostet Aufmerksamkeit. Nur Retention zahlt Dividenden.
Damit das funktioniert, braucht es Millionen Datenpunkte. Der Algorithmus weiß, wann ich pausiere, welche Videos ich bis 80 Prozent durchhalte, bei welchen Thumbnails mein Daumen zögert. Mit wem ich teile, was ich kaufe, wie lange ich auf einem Clip bleibe.
Aus all dem wird ein Profil destilliert, und daraus mein Feed.

Aber nicht nur meiner – auch deiner. Und Millionen andere.
Das ist kein offizieller Begriff, aber ich nenne es Hive Mining – Schwarmschürfen. Der Algorithmus behandelt uns wie einen Bienenstock. Wir summen, er schürft. Er filtert die aufregendsten, polarisierendsten Inhalte heraus und serviert sie in jede einzelne Gruppe zurück.

Das Ergebnis: ein extrem süchtig machender Feed:
Aber auch mehr Gleichförmigkeit, mehr Sensationslust, engere Echokammern. Interessen wirken individuell – sind aber algorithmisch erzeugt. Das Eisbad, die Carnivore-Diät, ätherische Öle: keine organisch gewachsenen Interessen, sondern algorithmische Silos, die dich einsperren.
Das Problem ist nicht die Vielfalt – es ist die Glätte. Alles ist poliert, reibungslos, ohne Stolpersteine.
Aber menschliche Bedürfnisse sind nicht glatt. Sie sind widersprüchlich, schief, manchmal unbequem.
Und genau deshalb füttert der Algorithmus uns unaufhörlich: Befriedigt zu sein wäre schlecht fürs Geschäft.
Ich sage mir manchmal: „Na und? Ich habe doch profitiert. Der Stau heute früh hat mich nicht aufgehalten. Der Spamfilter rettet mich vor Prinzen aus Nigeria. Die Übersetzungs-App bewahrt mich in Neapel vor einem Rosmarinbrötchen, das ich nie bestellt hätte.“
Stimmt. Ohne Algorithmen wäre mein Alltag ungleich sperriger. Ich würde mit einer Landkarte auf dem Lenkrad im Kreis fahren, mein Postfach wäre ein Basar für Potenzpillen, und im Supermarkt schwanke ich zwischen leeren Regalen und Milchüberschwemmung, weil ein Einkäufer falsch bestellt hat.
Algorithmen sind gute Werkzeuge – solange sie Werkzeuge bleiben.

Doch sobald Zeit zur Währung wird, verwandelt sich die freundliche Empfehlung in eine Falle.
Ich merke, wie meine Hand die Scrollgeste macht, noch bevor mein Kopf entschieden hat. Die Espressomaschine faucht ein zweites Mal – der erste Kaffee ist längst kalt.

Das Gefährliche ist: Die Falle ist weich gepolstert. Autoplay ist standardmäßig an. Bestätigungstöne sind sanft, fast beruhigend. Die Pausentaste ist da, wirkt aber wie eine Notbremse, die man nur im äußersten Notfall zieht.
Und diese Weichheit macht etwas mit uns. Sie macht uns glatter – und damit auch langweiliger, , weil alles, was uns reiben könnte, sanft aus dem Weg geräumt wird. Von außen betrachtet unterscheiden wir uns kaum noch: dieselben Serien, dieselben Sprüche, dieselben Reflexe. Unsere Geschichten klingen wie Kopien voneinander.

Und wir werden unsozialer.
Nicht laut und aggressiv, sondern still. Wir ziehen uns zurück in unsere Feeds, weil echte Gespräche langsamer sind als der Algorithmus. Ein Mensch macht Pausen, er stottert, er überlegt. Der Feed nicht. Und an dieses Tempo gewöhnen wir uns.
Ich kenne Jugendliche, die kaum noch Lust haben, miteinander zu reden – nicht, weil sie nichts zu sagen hätten, sondern weil ein Gespräch sofortige Reaktion verlangt. Es gibt keine Zeit, sich zu verstecken, keine Chance, die perfekte Antwort nachzureichen. Der Feed dagegen wartet. Er liefert glatt und sofort – und vielleicht verlernen wir dabei genau das, was ein Gespräch lebendig macht: das Schweigen, das Nachdenken, das Zögern.
So werden wir nach außen austauschbarer – und fühlen uns nach innen schneller gelangweilt. Denn wo alles glattläuft, entsteht kein Widerstand, kein Funke, an dem man sich reibt. Und genau deshalb greifen wir wieder zum Feed.

Ich swipe weiter, nichts macht satt, es gibt keine Erkenntnis. Nach dem fünften Clip weiß ich nichts mehr vom Ersten. Solange ich nicht satt bin, fordere ich Nachschub. Das System lebt davon, dass ich nicht zufrieden bin. Jeder Swipe ein Stimmzettel, jeder Klick ein Vertrag ohne Unterschrift.
Genau darauf ist das System gebaut: mein ewiges ‚Noch eins‘ wird in Tabellen verwandelt.
Was für mich nach Zerstreuung aussieht, ist für die Plattform ein Schatz: Jede Geste, jede Sekunde wird notiert.
Mein stumpfe innere Leere wird dort als Triumph verbucht.

0,7 Prozent mehr Retention klingt nach nichts – in Wahrheit heißt es: Millionen Menschen bleiben eine Sekunde länger im Werbevideo gefesselt. Millionen Sekunden mehr Reichweite – Für die Plattform ein Feiertag, für mich ein Abend, an dem ich nicht mehr weiß, warum ich noch immer scrolle.
Am Ende sieht mein Bildschirm aus wie ein perfekt gestutzter Vorgarten. Keine Stolpersteine, kein Unkraut.
Ein Video über gewaltfreie Kommunikation neben einem über echte Schreie im Horrorfilm.
Ein Interview mit einem Philosophen neben einer Löwenjagd mit Drohne.
Alles hübsch nebeneinander, gleich wichtig, gleich appetitlich.

Es riecht nach Pizza aus dem Karton. Die Fernbedienung klebt ein bisschen.
Und laut sage ich: „Nur noch dieses eine“ und das Autoplay nimmt mir die Entscheidung ab.
Der Algorithmus ist schneller als meine Einsicht.

Natürlich könnte ich jetzt moralisieren: „Schmeißt die Handys weg, löscht die Apps, lebt frei!“
Aber das wäre heuchlerisch. Dieser Podcast selbst wäre ohne Algorithmen eine Flaschenpost, die nie gefunden würde.
Ich profitiere, wie wir alle profitieren: Orientierung, Sicherheit, Sichtbarkeit.
Doch genau das macht die Falle so elegant. Was nützlich begann, wird zur Ware.
Zeit auf der Plattform wird zur Leitgröße, und wir ticken im Takt mit.

Die Falle ist nicht der nächste Klick – die Falle ist, dass es immer einen nächsten Klick gibt.

Vielleicht ist was uns am meisten fehlt: die Langeweile.
Sie war immer schon der Motor der Kreativität, ein leeres Feld, auf dem Ideen wie Unkraut wachsen durften.
Heute aber gilt das als Defekt, den wir sofort mit einem Wisch beheben.
Die Plattformen leben davon, dass wir uns nicht mehr mit Langeweile auseinandersetzen.
Denn wo sie ist, entsteht Neues.

Und Neues ist der natürliche Feind des Feeds, Neues braucht Aufmerksamkeit und das kostet Zeit und verdient kein Geld.
Also füttert man uns, bis wir glatt und beschäftigt sind.
Ohne Langeweile keine Überraschung – und ohne Überraschung kein Leben.
Deshalb verkauft man uns den größten Blödsinn als Fortschritt: „Nie wieder Langeweile!“
Was in Wahrheit heißt: „Nie wieder deine eigenen Ideen.“

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