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von Rudolf Arlanov
Der Titel eines Textes ist pure Magie. Er erinnert an eine verschlossene Tür mit einem Schild inklusive einladender, geheimnisvoller Aufschrift. Das ist der Moment – zumindest bildet sich das der Schildaufbringer ein –, an dem die Zauberkunst ihre Wirkung entfaltet: Die Vorstellungskraft höflich und direkt anzuregen. Warum nicht gleich beim Titel damit beginnen?
Der erste Satz gilt allgemein als essenziell, da er in den Text einführt, das Interesse weckt, sicherlich mit Informationen über das Setting, über das Thema oder über eventuelle Protagonisten anfängt und den Folgeabschnitt oder -satz beeinflusst und dieser den anschließenden und dieser den nächsten undsoweiterundsofort.
Es mag an der unspektakulären Zeit liegen, die auf den Text abgefärbt hat, denn endlich beginnt er, aber leider unspektakulär:
Es war einer dieser wunderschönen Spätsommertage, wie sie so oft in Geschichten und so selten im wahren Leben vorkommen. Die Menschheit strahlte. Heute. Gestern. Letzte Woche. Vergangenes Jahr. Unspektakulär, metaphorisch, absolut genderneutral und mit Assoziationen, die in die falsche Richtung liefen. In ihrer Gesamtheit und als Gemeinschaft strahlte die Menschheit voller Freude. Seit über einem Jahrzehnt. Dieser Tag lud zu tiefgründigen Gedanken ein und regte sie an einem Ort an, der prädestiniert dafür war, über Gott, die Welt und das Leben zu sinnieren.
In einer Kneipe betrachtete ein alter Mann sein leeres Glas und schüttelte den Kopf. Er war unzufrieden. Mit sich und seiner gesamten Situation. Deswegen saß er hier, an der Theke einer Bar in einer nicht näher genannten deutschen Stadt, und trank ein Bier. Nichts Besonderes, außer: Er war bis vor einigen Jahren, es könnte über ein Jahrzehnt her sein, kein Freund von Kneipen. Aber, was sollte er daheim auch machen. So war das gegenwärtig meistens, da die Zeiten nun einmal so waren, wie sie waren.
Der Alte hob die Hand und sagte: »Noch eins. Kannst wieder das alte verwenden.«
Der Barmann nickte, so wie es Barmänner taten, und zapfte ein weiteres Bier in das gleiche Glas. Als er es vor dem Alten stellte, markierte er auf dessen Deckel mit seinem Stift neben zwei Strichen einen dritten und fuhr dann fort, das zu tun, was Barmänner hinter der Theke zu tun pflegten.
Der Alte strich sich durch den Bart und betrachtete fasziniert sein Getränk. In einem Glas voller Bier waren Sonnenschein, ein Lächeln und eine Erkenntnis drin. Die Erkenntnis lag auf dem Grund. Eine schwere Erkenntnis. Mehrere Erkenntnisse wären unmäßig gewesen.
»Mach mal den Fernseher an«, sagte der Alte. »Die Nachrichten, ich brauche was zum Lachen.«
Der Barmann nickte und schaltete das Gerät ein.
Vielleicht können die nun folgenden Nachrichten als Exposition angesehen werden. Oder vielleicht können die vorangegangenen Zeilen bereits als solche benannt werden. Vielleicht ist dies ein literarischer Kniff, um den Text oder die Motivation des Protagonisten zu erklären. Nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher ist dies der Fall.
Eine eindeutig feminine Sprecherin grüßte mit einem genderneutralen »Guten Tag, sehr geehrte Zuschauende« – der Alte kommentierte unmittelbar mit einem angewiderten Lachen – und berichtete: »Stockholm. UN-Generalsekretärin Greta Thunberg verkündete heute Vormittag im neuen Hauptquartier der Vereinten Nationen mit großer Freude und Zufriedenheit den dreizehnten Jahrestag des Weltfriedens. Sie lobte die Einhaltung der Charta der Vereinten Nationen durch alle Mitgliedsstaaten und zitierte zum siebzigjährigen Gedenken an Martin Luther King jr. genauso flammend wie emotional dessen historischer Rede ›I have a dream‹ vom 28. August 1963.«
Die Rede ist eine perfekte Rede und gehört zum Allgemeinwissen. Daher werden, aufgrund der Straffung der Textlänge und der Hörzeit, aber vor allem aus Respekt vor dem verstorbenen Bürgerrechtler und vor den genderneutralen Hörenden, Details dieser historischen Begebenheit durch UN-Generalsekretärin Greta Thunberg ausgespart. Es wird nicht erwähnt, dass die Neuauflage der Rede aus einer minutenlangen Totalen der UN-Generalsekretärin bestand, auch wird auf ihr Mienenspiel nicht eingegangen. Stattdessen wird hier mit einem anderen literarischen Kniff gearbeitet und Informationen über diese Utopie mittels direkter Rede an den Hörer vermittelt.
»So viel Harmonie und Frieden. Das ist doch scheiße!«, sagte der Alte, vielleicht mehr zu sich oder dem Barmann, der ihn interessiert anblickte und dabei klassisch ein Glas auf Hochglanz polierte, als zum Fernseher. »Oder, was meinst du?«
»Mh-mh«, antwortete der Barmann und polierte unbeirrt weiter.
»Ich versteh die Welt nicht mehr. Was ist aus ihr geworden?«
Der Alte trank erneut, stellte das Glas ab und deutete auf den Barmann.
»Erinnerst du dich noch daran, als es Atomwaffen gab?«
»Mh-mh.« Der Barmann nickte und seufzte. Die Kneipe war damals ein reger besuchter Treffpunkt und ein kulturelles Zentrum gewesen, besonders an Wochenenden war das Haus voll und die Gäste noch voller. Heutzutage verirrte sich kaum noch jemand hier, außer dieser Nostalgiker.
»Tschernobyl bläute der Menschheit Vernunft ein. Alles muss bis zum Schluss ausgereizt werden, sonst ist es uninteressant und langweilig.«
Der Alte lachte und in seinem Lachen lag Bitterkeit mit einer Prise Wahnsinn. Er hob sein Glas und rief: »Auf dich, Tschernobyl.«
»Mh-mh.«, kommentierte der Barmann und nickte wissend, während der Alte trank.
»Ich vermisse die damalige Zeit. Es gibt niemanden zu verteufeln. Mag verrückt klingen, aber ist es nicht schade, dass nichts mehr auf der Welt knallt? Ich meine, wann war der letzte Bürgerkrieg? Wann der letzte Terroranschlag? Vor Jahrzehnten war weltweit richtig was los. Da wusste man noch: Der war gut, der war böse. Da hatte man noch Ziele. Was sind heutzutage Ziele, die man erreichen möchte? Hast du welche?«
Der Barmann zuckte mit den Schultern.
»Siehst du. Sag ich doch. Weltfrieden! Pah! Alles lebt ziellos in den Tag hinein.«
Der alte Mann fixierte plötzlich den Barmann, der sich davon nicht irritieren ließ, und sah ihn durchdringend an. Dann zeichnete sich ein Lächeln in seinen tiefen Gesichtsfalten ab, als er fragte: »Erinnerst du dich auch, dass es früher zwei Geschlechter gab?«
»Mh-mh«, stimmte der Barmann zu, wechselte die Gläser und begann von Neuem zu polieren.
»Männlich und weiblich. Inklusive Schwule und Lesben, aber um die gehts nicht, das waren ja auch Männer und Frauen.«
Der Alte trank aus, tippte lächelnd aufs Glas und zwinkerte seinem Gegenüber zu.
Der Barmann füllte nach, stellte das Bier inklusive Deckel-Vermerk vor seinem Gast, dazu eine Schale mit salzigen Nüssen neben das Bierglas, und setzte seine Tätigkeit fort.
»Gleichgeschlechtliche Liebe war ein heikles Thema. Die katholische Kirche verteufelte sie damals, aber machen wir uns nichts vor, warme Brüder und Schwestern gab es und nicht nur dort zu Hauff.«
»Mh-mh.« Die Stimme des Barmanns klang um eine Terz höher als zuvor. Er war ein wunderbarer Zuhörer, sehr aufmerksam, und er kommentierte an genau den richtigen Stellen die Worte seines Gastes.
»Seit Jahren die weltweite Toleranz und dieses Die-Menschheit-ist-eine-große-Familie-und-alle-haben-sich-lieb-Gerede. Ich kann nicht mehr. Diese ganze Toleranz halte ich nicht mehr aus: aller Ethnien, aller Hautfarben, aller Religionen und dann aller Geschlechter. Ich habe eine Liste gesehen mit sechzig Geschlechtsbezeichnungen. Sechzig!«
Mit einem lang gezogenen »Mh-mh« reagierte der Barmann. Er war richtig gut.
Der Alte sah ihn entgeistert an und fragte: »Kannst du auch etwas anderes sagen außer Mh-mh?«
Das kam überraschend und vermutlich war angenommen worden, dass dieses ›Mh-mh‹ als Running Gag die ganze Zeit bis zum Schluss durchgezogen wird, aber wer hätte ahnen können, dass der Alte seinen Monolog mit einer Tabufrage für Barmänner sabotierte?
Und wer hätte ahnen können, dass dieser Barmann einer besonders erfahrenen Gattung angehörte und im Gegenzug die Sabotage weiterführte, in dem er nickte und sagte: »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verärgern oder respektlos erscheinen, sollte dies der Fall gewesen sein. Natürlich kann ich etwas anderes sagen. Stattdessen höre ich dir zu und möchte dich nicht unterbrechen, weil ich das Gefühl habe, dass du wichtige Dinge zu sagen hast.«
»Mh-mh«, antworte der Alte, seine Überraschung kleinspielend, hatte er offensichtlich keine Antwort seines Gegenübers erwartet, und fuhr, als wäre nichts gewesen, mit seinen geäußerten Gedanken fort: »Das muss man sich mal geben. Ich bin da raus. Für mich ist das nichts. Ich brauche es einfach. So wie ich es in den Priesterseminaren gelernt habe. Den katholischen Mann und die katholische Frau bei mir, da die Moslems, dort die Juden und nicht zig Geschlechter, nicht diese grenzenlose Toleranz aller Volksgruppen und Minoritäten, verdammt noch mal!«
Der Alte hatte sich in Rage geredet, auch wenn ihm das nicht bewusst war, dass er es tat, und er hätte unter anderen Umständen und Zeiten, wäre es ihm bewusst geworden, sofort damit aufgehört, aber die Zeiten waren, wie sie waren, und diese Zeiten bedurften einiger klarer Worte eines Expriesters in einer Kneipe mit einem sehr aufmerksamen Barmann, wie es ihn wohl überall in dieser oder ähnlicher Form weltweit gab. In diesem kurzen Innehalten zwischen Rage und Schweigen nahm der Alte erneut einen tiefen Schluck, als würde er wissen, dass er noch lange nicht fertig war und noch einiges sich von der Seele zu reden hatte.
»Wo sind meine Feindbilder geblieben?«, fragte er und seine Stimme klang plötzlich gebrochen.
Der Barmann horchte auf und trat einen Schritt zurück.
»Wo sind die Themen geblieben, die ich in meinen Predigten behandelte?«
Der Alte fasste sich an die Stirn, erinnerte sich und sprach genauso gebrochen weiter: »Ich stand vor meiner Gemeinde und blickte in diese zufriedenen, glücklichen Gesichter kulturell unterschiedlicher Individuen aller Altersstufen, und sie saßen alle da und blickten mich erwartungsvoll an und ich wusste nicht, was ich ihnen sagen sollte. Kennst du dieses Gefühl?«
Dem Alten liefen plötzlich Tränen die Wangen hinab und er schluchzte.
»Ich fühlte mich so einsam, vor meiner Gemeinde. Ich stand da, der Hirte, der nichts zu hüten hatte.«
Der Barmann tat das einzig Richtige. Er ließ die Schale mit den salzigen Nüssen verschwinden, reichte seinem Gast ein Taschentuch und wechselte den Sender zu etwas Aufbauendem, was er im Angesicht der Situation als aufbauend einschätzte, denn weinende Gäste waren Gift fürs Geschäft. Und der Grund eines Bierglases barg tatsächlich schwere Erkenntnisse: Der Weltfrieden war für manche Menschen eine Belastung.
Der Alte fasste sich und sprach weiter, mit der gewohnten Stimmlage, die er seit Beginn der Szene hatte: »Meine Predigten konnte ich an den Nagel hängen. Ich wusste nichts mehr mit meiner Arbeit, die ich als eine Berufung angesehen hatte, anzufangen. Mich hat diese Welt so zerstört, das glaubst du gar nicht.«
Dem Barmann entglitt ein erleichterter Seufzer. Der Alte stockte und sah ihn irritiert an.
Ein wundervoller und perfekter Moment zwischen den beiden, schweigenden Männern. Alles passte perfekt zusammen, die Kneipe, der Expriester und der Barmann; der Weltfrieden war genau dort, wo er sein sollte. Draußen.
Der Alte fuhr fort: »Wo war ich? Ach ja. Der Mann war der Herr im Haus und der Brotverdiener, die Frau kümmerte sich um den Haushalt und die Familie. So gehört es sich. Alles hatte seine Ordnung. Darum geht es doch: Ordnung.«
»Mh-mh.« Der Barmann nickte, um nicht zu monoton zu erscheinen, und baute in seinen Gesichtsausdruck eine kleine Variation ein, um interessierter zu blicken. Es wirkte. Der Alte nickte und sprach weiter: »Um Frauen aus manchen Berufen fernzuhalten, war für sie das Lohnniveau in manchen Branchen trotz Frauenquote ungünstiger. Das war volle Absicht durch die Regierung. Weißt du noch? Fand ich ok.«
»Mh-mh.« Die Stimmlage des Barmanns war auf ihre ursprüngliche Tiefe zurückgekehrt. Er trat wieder einen Schritt vor, hoffte, der Alte würde es als eine Geste der Verbundenheit verstehen, und entschied mit eindeutigen, finanziellen Hintergedanken, es wieder riskieren zu können, seinem Gast salzige Nüsse anzubieten.
»Jetzt haben wir Gleichberechtigung aller, gleiche Lohnniveaus zwischen Männern, Frauen und all dem Diversen dazwischen. Keine Feindbilder mehr. Alle weg. Weltfrieden. Ne, mir wird übel.«
Ja, er war sehr unzufrieden und es gab nichts auf der Welt, was seinen Unmut in Luft hätte auflösen können, denn er lebte in einer Utopie. Wahrscheinlich hätte ihn doch eine Sache herzhaft zum Lachen gebracht, hätte er die schrecklich guten Nachrichten weiterverfolgt, als es um das Thema Wirtschaft ging: Bill Gates hatte mit Stolz verkündet, dass Windows endlich fehlerfrei sei, er es der Menschheit als kostenlosen Download zur Verfügung stellt und er sich schließlich in seinen wohlverdienten Ruhestand zurückzieht. Aber das ist eine andere Utopie.