Falsch abgebogen – Wie uns das Navi die Welt klaut

Stell dir vor, du läufst durch die Stadt – und dein Navi klaut dir unbemerkt die Welt. In der neuen Schalltrichter-Episode „Falsch abgebogen – Wie uns das Navi die Welt klaut“ erzählt Thomas Speck, wie Bequemlichkeit zur Falle wird: Straßen verwandeln sich in bloße Kulissen, Menschen zu Silhouetten, Gerüche und Geräusche verblassen. Alles wird glattgebügelt wie ein frisch gestärkter Hemdkragen.
Neulich stand ich vor einem Café, das laut Navi gar nicht existierte. Es roch aber eindeutig nach frisch gemahlenem Kaffee. Wo die Karte eine graue Mauer versprach, war in Wirklichkeit ein Schaufenster mit Tür – und dahinter ein Duft, der wie eine offene Einladung wirkte.
Drinnen fragte man mich: „Wie sind Sie auf uns aufmerksam geworden?“
Und ich dachte: „Eigentlich nur durch blanken Zufall – wäre ich brav dem Navi gefolgt, hätte ich euch nie bemerkt.“
Laut aber sagte ich: „Ihr seid mir empfohlen worden.“
Höflichkeit ist mir schließlich wichtig.
Überrascht war ich, als ich erfuhr, dass dieses Café schon seit Jahren an dieser Stelle existierte. Wie konnte ich das übersehen?
Du glaubst vielleicht, das ist eine Utopie? Ist es tatsächlich nicht. Ich kenne wirklich Menschen, die jeden Weg immer mit Navi gehen oder fahren. Auf meine Frage nach dem Warum kommt eine eher verwaschene Antwort. Im Kern heißt es: Bequemlichkeit. Man kann über alles Mögliche nachdenken, während einem die Stimme im Ohr sagt: „geh links, geh rechts – zweihundert Meter die Straße entlang, dann halb links.“
Aber übersehen wir da nicht etwas?
Ich verlasse morgens die Wohnung mit dem üblichen kleinen Ritual: Schlüssel in der linken Jackentasche, Handy rechts, der Kaffeebecher und der Schlüsselbund klackern einmal gegen die Tür, bevor sie ins Schloss fällt. Im Treppenhaus riecht es nach kaltem Stein und einem Hauch Orangenreiniger.
Draußen tippe ich mit dem Daumen auf den blauen „Start“-Button meines Navis; die Karte liegt vor mir wie ein frisch aufgeschlagenes Notizbuch. Im Ohr klickt leise der Ohrstöpsel, und die Stimme, inzwischen vertrauter als die meiner Nachbarn, sagt: „In 120 Metern rechts.“
Und ich merke, wie ich, ohne nachzudenken, dem kleinen Pfeil folge, der sich auf dem Display über die graue Straße schiebt wie eine Spielsteinfigur. Der Weg, den ich zu gehen habe, wird mein Korridor.
Die Navi-App malt ihn handlich über die Stadt: Sie mietet sich eine Spur im Raum, streicht die Ränder aus, und übrig bleibt ein Teppichläufer, der vom Ausgang meiner Wohnung bis zum Ziel rollt. Ich brauche nur noch drauf zu laufen.
Die Seitenstraßen werden zu Kulissen, die nur noch existieren, damit der Läufer nicht ausfranst. Der Zeitungskiosk an der Ecke – Zündhölzer, Rubbellose, Tageskarten – rückt einen halben Schritt in den Schatten. Ich höre das Papier rascheln, gehe aber nicht hin.
Natürlich ist das praktisch. Ich spare Zeit, ich spare Nerven, ich streite nicht mehr mit mir selbst über „links vom Brunnen oder rechts am Brunnen vorbei?“ Mein Handballen vibriert freundlich, wenn ich zu nah an einer Abbiegung vorbeiziehe.
Ich schalte das Noise-Cancelling meiner Kopfhörer an, lasse mich von Musik berieseln – Musik, von der ich später nicht mal weiß, wer sie gesungen oder gespielt hat.
Die Welt zieht sich wie ein Vorhang halb zu, und übrig bleibt der Takt und die Stimme in meinem Ohr, ein ruhiges Metronom im Flüsterton: „In 120 Metern rechts …“ Ich stelle meine Schritte auf den Takt ein, Schritt an Schritt, so gleichmäßig, dass die Stadt um mich herum wie eine Leinwand wirkt, die der Wind nur noch flach überstreicht.
Die Schaufenster werden zu Staffagen; der Zeitungskiosk, der früher ein Versprechen war, ist jetzt nur noch Textur. Menschen werden Silhouetten, Gespräche dumpfe, kaum hörbare Textblöcke, Gerüche verlieren ihre Namen. Ich gehe mechanisch, lasse mich nicht aus meinem Tritt bringen. Nicht mechanisch im bedeutungslosen Sinn – sondern wie jemand, der das Ziel schon im Kopf trägt und die Strecke nur noch wie eine Formalität durchschreitet; als würde sich der Weg hinter mir leise wie ein Faden von einer Spule entrollen.
Die App rechnet, ich folge. Punkt. Ziel. Haken dran. Effizienz leuchtet wie eine kleine Trophäe im Display.
Und ja, Orientierung ist eine Frage von Zugang; wer hier lacht, verkennt, dass Bequemlichkeit manchmal schlicht Notwendigkeit ist. Zeit ist Geld – schön, aber richtiger wäre: Zeit ist eine Berechnung, und die App stellt sie minutengenau aus – Ankunft in 16 Minuten.
Ich ertappe mich dabei, die Bequemlichkeit zu polieren wie einen Türknauf: Ich rede von „mentaler Entlastung“, von „Flow“, während ich mit dem Zeigefinger über den Bildschirm wische, um den Zoom nachzujustieren. Ein Update ploppt auf: „Premium+ vermeidet Staus noch smarter.“ Das Ausrufezeichen blinkt wie ein Bonbonpapier im Rinnstein. Ich tippe auf „Später“, weil ich noch an das letzte Mal denke, als mir ein neues Menü den „Weiter“-Knopf hinter einem neuen Icon versteckte.
Und genau das ist ja der Punkt: Ich kenne diesen Weg längst, könnte ihn mit geschlossenen Augen gehen. Aber es ist bequemer, wenn mir jemand zuflüstert: „Noch 200 Meter geradeaus.“ Mit Noise-Cancelling und Musik klingt die Stadt wie ein fernes Aquarium, und das Navi hält mich hübsch auf Kurs. So lenke ich mich davon ab, dass am Ende kein Abenteuer wartet, sondern nur acht Stunden Arbeit.
„Links abbiegen“, sagt die Stimme. Ich folge, und wie immer gilt mein Blick dem Radweg rechts neben mir.
Plötzlich stolpere ich. Jemand rempelt mich von links an und durchkreuzt meinen heiligen Korridor. Mein Kaffeebecher kippt, hinterlässt eine helle Pfütze auf dem nassen Asphalt. Ich fluche leise, denn ich bin morgens völlig nackt ohne Kaffee.
Der Mann schaut erschrocken und sagt sofort: „Das geht auf mich, ich hol Ihnen einen neuen.“
Ich will schon abwinken, da sehe ich zum ersten Mal, woher er eigentlich kam.
Und dort, in der Wand, wo meine Karte nur eine graue Fläche kennt – dort ist plötzlich eine Tür. Und ein fast golden schimmerndes Schaufenster. Und der Duft, der herausströmt, ist unverkennbar.
Einen Moment lang bleibe ich stehen, überrascht. Ein verwundertes „Ah“ entgleitet mir.
Und die Stadt antwortet: Ein Lieferwagen knurrt, ein Fahrrad klingelt, am Zebrastreifen tropft Wasser von der Ampelhaube. Irgendwo quietscht eine Straßenbahn in die Kurve, der Ton schneidet wie Kreide über Tafel. Menschen mit Rollkoffern ziehen vorbei, alle im gleichen Rhythmus, als hätten sie denselben unsichtbaren Schrittmacher.
Das Pflaster ist noch nass, es riecht frisch nach feuchtem Holz und Asphalt.
Der Regen ist gerade weitergezogen, die Wolken brechen auf. An ihren Rändern glimmt ein rosa Schimmer, als hätte jemand heimlich Puderzucker über den Himmel gestreut. Das nasse Pflaster glänzt und spiegelt die Lichter doppelt, jede Pfütze ein kleiner See mit eigenem Horizont.
Aus der Bäckerei duftet Kardamom, daneben hängt Diesel. Eine Frau klappt ihren Schirm zusammen, Regentropfen schlagen kurz gegen den Boden wie Applaus. Ein Hund schüttelt sich und sprenkelt eine Schaufensterscheibe, in der die ersten Sonnenstrahlen zitternd kleben bleiben.
Alles so wie immer und doch als wäre ich das Erste mal da. Nun, ohne Kaffee bin ich nur ein halber Mensch. Also trete ich ein.
Und während ich auf den ersten Schluck warte, und das freundliche Cafe von innen bestaune, schleicht sich der Gedanke ein: Wie viele solcher Türen übersehe ich eigentlich, weil mir die App den Weg schon fertiggekaut serviert?
Das Navi macht das Leben glatt wie einen frisch gebügelten Hemdkragen – ordentlich, bequem, faltenfrei. Man muss nichts mehr riskieren, nicht suchen, nicht fragen. Aber diese Bequemlichkeit hat einen Preis: Sie stutzt den Zufall zurecht, bis er nicht mehr stört.
Auf der Strecke bleiben die scheinbaren Umwege. Die kleine Metzgerei, deren Schaufenster noch die alte Goldschrift trägt. Der Schuhladen, in dem jemand die Schnürsenkel nach Farben sortiert. Der Kiosk, der mir einmal Feuer gab, als mein Feuerzeug streikte. Ich erinnere mich an die Handbewegung des Mannes, wie er das Streichholz mit dem Daumen anzündete und kurz Luft durch die Zähne sog, damit die Flamme nicht tanzte. Das ist lange her. Eine Erinnerung von vor der digitalen Welt.
Heute gibt es Trophäen: „Schneller gefunden“, „kürzester Weg“, „die meisten gelaufenen Kilometer“ – digitale Abzeichen, die uns die App verleiht wie Medaillen im Taschenformat. Kleine digitale Schulterklopfer, die aufpoppen, sobald wir brav der Linie gefolgt sind. Sie sind wie der Fliegenfänger, an denen wir kleben bleiben: zappelnd und doch unbeweglich, ein bisschen grotesk.
Also probiere ich einen Tag ohne Navi. Ich schalte das Handy stumm und stecke es in den Rucksack – allein die Bewegung hat das Gewicht von Entzug – und laufe weiter nach Geruch, nach Geräusch, nach Sonne. An der Ecke putzt jemand die Fenster mit Zeitungspapier, die Tinte färbt ab; beim Schuster riecht es nach Lederfett und Klebstoff. Ich biege falsch ab und richtig wieder ein. Ich kaufe einen Apfel, weil der Korb auf dem Gehweg steht – nicht, weil ein „Entdecken“-Tab ihn empfiehlt.
Und während ich weitergehe, stolpere ich plötzlich über Dinge, die ich längst vergessen hatte: ein Haus mit abgeschlagenem Stuck, an dem früher die Eisdiele meiner Kindheit klebte; eine Hofdurchfahrt, in der jemand einen Stuhl und eine Topfpflanze hingestellt hat, als wäre es ihr privates Wohnzimmer; ein Graffito, das schon so verwittert ist, dass es aussieht wie ein Fresko.
Ich bleibe stehen, lese Aushänge am schwarzen Brett eines Gemeindesaals – Gitarrenunterricht, Wohnungstausch, vermisste Katze – und begreife, dass ich solche Zettel seit Jahren nicht mehr wahrgenommen habe.
Alles wirkt plötzlich roh, unpoliert, aber eigenwillig schön. Ich habe nicht das Gefühl, irgendwohin zu müssen, sondern einfach nur: hier zu sein.
Als es abends erneut zu regnen beginnt, die Tropfen auf der Kapuze trommeln und der Wind über die Brücke zieht, habe ich mich doch verlaufen. Also hole ich das Handy hervor, drücke auf „Nach Hause“, und der Korridor klappt sich auf wie ein Notausgang – hell, eindeutig, verführerisch.
Ich bleibe stehen. Ich schaue mich um, suche nach vertrauten Dingen – ein Straßenschild, eine Haltestelle, ein Stück Schiene, das ich wiedererkenne. Ich frage einen Mann mit Einkaufskorb, er sagt: „Immer der Straßenbahn nach.“ Und die Schienen klacken bestätigend unter einem Auto, als wollten sie mir den Weg zeigen. Das kann mir kein Navi geben. Dieses Gefühl, selbst der Entdecker zu sein – ohne vorher schon zu wissen, was kommt.
Ein Leben im Korridor ist sicher, berechenbar, bequem. Aber es ist auch flach wie ein Teppichläufer. Das Leben selbst aber ist ein Haus mit vielen Zimmern, und wir sollten nicht vergessen, ab und zu an einer unbekannten Tür zu rütteln. Wer weiß – vielleicht riecht es dahinter nach frisch gemahlenem Kaffee. Das kann mir kein Navi geben. Dieses Gefühl, selbst der Entdecker zu sein – ohne vorher schon zu wissen, was kommt.
Natürlich: Navis haben ihre Berechtigung.
Sie bringen uns ans Ziel, sie bewahren uns vor Umwegen, sie retten uns manchmal sogar aus der Sackgasse. Aber sie verwandeln uns von Wegfindern in Wegfolger – von Menschen, die Karten lesen, in Menschen, die bloß noch Anweisungen befolgen. Und vielleicht ist es genau das, was uns Stück für Stück die Welt nimmt: weil wir den Weg zum Ziel nicht mehr sehen.
Ich lächle. Heute habe ich die Arbeit verpasst, aber eine ganze Stadt gefunden.