Autor:
Thomas Speck
Veröffentlicht am:
3. Juni 2024

Die Zeit – Die „Zeit sparen“ Lüge

Zeit-Cover

In der fünften Episode des Podcasts „Der Schalltrichter“ reflektiert Thomas Speck über das allgegenwärtige Konzept der Zeit und wie es unser Leben formt und beeinflusst. Er stellt kritische Fragen über die gesellschaftlich festgelegten Zeitrahmen, die unser Leben bestimmen, und hinterfragt, warum wir uns diesen Normen unterwerfen.

Wer hat denn die Regel aufgestellt, dass um 12 Uhr zu Mittag gegessen wird?
Wer hat verfügt, dass 16 Jahre Lernen nötig sind, um durch die Wirren der Schulen und Universitäten zu navigieren, damit etwas Besseres aus uns wird?
Wer zog die Grenzen der Zeit?

Wer beschloss, dass eine Minute aus sechzig Sekunden, eine Stunde aus sechzig Minuten bestehen muss?
Solche Fragen haben mich durch die Jahre meines Lebens immer begleitet, stets flüsternd, stets Antworten fordernd: Wer hat all dies beschlossen?
Und warum muss ich dem folgen?

Die Zeit durchzieht das Universum, gibt dem Universum erst seine Bedeutung.
Doch diese Bedeutung, der zeitlich vergehende Wert, wurde von uns Menschen geschaffen. Weshalb wir in jeden Winkel der Erde unsere Uhren sorgfältig an unsere Wände heften.
Es gibt keinen Ort dieser Welt, wo wir keine Uhr finden, und wenn doch – so tragen wir sie am Handgelenk dorthin – ein Zeugnis unserer Entschlossenheit, die Zeit zu bändigen, ein Spiegel unserer Sehnsucht nach Ordnung in einem übergeordnet chaotischen System?

Wir unterwerfen uns einer selbsterhaltenden Theorie einer Gesellschaft, die uns zwingt, zwei Minuten dem Zähneputzen zu widmen oder acht Stunden den Armen des Schlafs zu überlassen.

Aber warum?

Als Gesellschaft haben wir einen Pfad für das Lebens skizziert: Mit 22 soll die Ausbildung abgeschlossen, mit 25 die Karriereleiter erklommen sein. Mit 30 soll das Fundament einer Familie gelegt, mit 40 der Zenit des Erfolgs erreicht und mit 60 der wohlverdiente Ruhestand angetreten werden.

Aber warum?

Wir glauben, dass der Zeit-Mantel, den wir in einheitlicher Konfektionsgröße über das Leben eines jeden Menschen stülpen, auch von eben Jedem getragen werden muss.
Doch wenn einem dieses Gewand nicht passt, schieben wir die Verantwortung diesem jemand selbst zu, nicht dem Zeit-Korsett. Wir pressen diesen Menschen dann zwanghaft in dieses Korsett, stopfen die überstehenden Teile noch dazu hinein, ungeachtet dem Schmerz, den dieser Mensch dabei empfinden könnte. Du musst da reinpassen, Mensch!

Zu schnell oder zu langsam.
Zu groß oder zu dick.
Zu unfähig um zu lernen, worauf es tatsächlich ankommt.
Zu schwer zu erziehen, zu unaufmerksam oder einfach nur nicht gut genug.

Unsere Bemühungen werden verdoppelt um aus dem Menschenwesen noch etwas zu machen, Nachhilfe, Sozialberatung und Psychologie – wir wollen doch nicht, das dieses Menschenkind scheitert im Leben, oder? Er oder sie muss doch reinpassen in unser System, unsere Ordnung und Abläufe!

Aber Warum?

Die Gesellschaft misst Menschen an der Zeit, die sie brauchen um eine Leistung zu erbringen, nicht nur an der Leistung an sich. Wir vergleichen unser Zeit-Leistungsverhältniss mit dem anderer Menschen.
Getrieben von einem Besser, schneller und mehr.

Doch Zeit kennt kein Mehr.
Ihr Wesen ist Vergehen, Verblassen, Vorbeiziehen.
In einer endlichen Welt gibt es kein endloses Wachstum, kein endloses Schneller und Mehr.
Zeit erinnert sich nicht an Gewesenes; Zeit weiß nichts vom kommenden.
Einen Lidschlag später ist derselbe Moment, den man gerade erlebt, schon wieder verblassende Erinnerung.
Die Zeit ist einfach nur ein immerwährendes sterben, verrinnen – eine Sekunde vergeht und schon ist die nächste Sekunde begonnen. Sterben – Leben – Tick und Tack.

Und doch meinen wir immer wieder, es ist jetzt an der Zeit, etwas zu tun!
Doch wer entscheidet das? Wer entscheidet, wann es Zeit ist, das ich was tun muss, wenn dieselbe Zeit von eben, schon wieder vergangen ist?
Wie wird das entschieden?

Die Menschen laufen mit gefrorenen Gesichtern ihrer Zeit hinterher. Noch mehr zu leisten, noch ein mehr zu schaffen ist in die verbleibenden Stunden ihres Tages zu pressen.
Grußlos, Blicklos ohne Erkennen oder Interesse hasten sie vorbei an Plakaten über Reiseziele oder die Vorteile eines Kontos bei einer bestimmten Bank. Kinder, die an den dünnen Ärmchen plärrend im eisernen Griff ihrer Mütter hinterher gezerrt werden.
Kleine Tragödien inmitten einer teilnahmslosen steinernen Menge des „Ich muss noch etwas tun“ Dogmas. Das Weinen und Zerren des kindes ist lästig. Ein beschämendes Zeugnis für die mütterliche Unfähigkeit.
Das Urteil all jener, die auf der Zeitsparkasse denn grauen Herren verfielen – frei nach Michael Ende.

8 Stunden dauert unser Tag. 8 Stunden des Leistens und Schaffens – 8 Stunden, die uns beurteilen, die uns bewerten und über uns entscheiden. 8 tägliche Stunden, die wir den Herren unserer Zeit schulden – egal welche Leistung jeder einzelne darin unter zu bringen vermag.
Wer entscheidet über das genug?
Wer sagt, das man nach einer vorbestimmten Menge Leistung nicht nach Hause gehen darf, weil noch immer 1 Stunde Arbeitszeit einzubringen ist?
Und an welchem Maßstab wird solch eine Leistung überhaupt bemessen?

Nach diesen 8 Stunden sind wir wieder Menschen und von keinerlei Interesse jener grauen Zeitagenten. Freizeit, dieses bunte geflügelte Sein zwischen den Tagen, das vollgerotzt wird mit allerlei Aktivitäten für sich selbst oder um seine Kinder zu bespaßen.
Das muss auch so, damit der Kreislauf weitergehen kann. Denn nur wenn wir unser Akonto wieder leeren, sind wir den Zeitherrschern erneut zu 8 Stunden verpflichtet.

Was hat die Menschen zu Investitionen gemacht, die man nur durch Zeitleistung gewinnbringend vermehren kann?
Freiwillig zum Objekt gemacht, freiwillig die Schnüre gebunden und die losen Enden den Zeitagenten gegeben. Jenen wenigen Puppenspielern, die es virtuos verstehen, die Gesellschaft tanzen und buckeln zu lassen zwischen den Begierden der Freizeit und den 8 Stunden-Notwendigkeiten, sich diese auch leisten zu können.
Unsere Wirtschaft kann jetzt jubeln!
Lenkbar, Formbar, Marionetten gleich, hängen wir nach jener täglichen, magischen, Acht in unseren Schnüren. Abhängig im wahrsten Sinne des Wortes. Und keineswegs wirklich zufrieden, noch so viel zu tun, so viel zu erreichen.

Aber Warum?

Sekunden die so akribisch gezählt werden, dass selbst der Sand in der Stundenglasuhr sich nach einer Auszeit sehnt, und niemals fragen wir uns – zu welchem Zweck?
Wir sprinten durch unsere Tage, getrieben von einer unsichtbaren Hand, die unermüdlich auf die Uhr schaut und flüstert: „Schneller, schneller, sonst verpasst du das Leben.“

Ironischerweise ist es genau dieses gehetzte Streben, das uns am Leben vorbeiziehen lässt.
Wir verpacken unsere Zeit in handliche Einheiten, verkaufen sie an den Höchstbietenden, nur um festzustellen, dass wir uns selbst in dem Prozess eingebüßt haben.

In der unermüdlichen Hast unseres Alltags, getrieben von der unerbittlichen Tyrannei einer Uhr, haben wir vergessen, zu fragen: Wessen Zeit leben wir eigentlich?
Ist es nicht an der Zeit, innezuhalten und zu überdenken, was Zeit für uns persönlich bedeutet?
Das wahre Leben ist nicht das, was auf Tick und Tack passiert, sondern das, was wir in den Pausen dazwischen finden – in den ungeschriebenen Momenten, die keinen Platz in unseren Kalendern haben, aber die Essenz unserer Existenz ausmachen.

Es ist doch paradox, das wir in dem Bestreben Zeit zu sparen, Leistung komprimieren um sie in immer weniger Zeit zu schaffen. Um dann festzustellen, das man in den gesparten Stunden nun wieder dieselbe Leistung erbringen muss, denn unerbittlich mahnt die Uhr, die noch schuldige Zeit ein.
Gefangen in einem Hamsterrad, das sich folglich schneller drehen muss.
Im Versuch, Zeit zu „sparen“, gewinnen wir letztlich kein Leben, wir verlieren es – während wir doch eigentlich nur nach einem Ausgang suchen.

Erinnern wir uns daran, dass Zeit einst nicht in Sekunden und Minuten gemessen wurde, sondern in den Wechseln der Jahreszeiten, im Auf- und Untergang der Sonne, im natürlichen Rhythmus des Lebens selbst. Diese Zeitrechnung, frei von der Kälte digitaler Displays, sprach von einem tieferen, bedeutungsvolleren Verständnis unseres Daseins.

In einer Welt, die sich unter dem Joch von Uhren und Kalendern beugt, stellt sich die brennende Frage: Wie können wir ein Zeitverständnis zurückerobern, das Raum lässt für das, was wirklich zählt – für das Ungeplante, das Spontane, für das Leben in all seinen Facetten?

Die Antwort liegt vielleicht in der bewussten Entscheidung, unsere eigene Zeit zu gestalten, unabhängig von den Takten, die uns umgeben. Es geht darum, den Mut zu finden, laut zu verkünden: „Ich lebe nach meiner Zeit, nicht nach einer, die mir die Gesellschaft aufzwingt.“

Auf meiner Suche nach Antworten auf all die vielen Fragen meiner Zeit, stieß ich auf Henri David Thoreau, der Mitte des 19. Jahrhunderts den Mut fand, sich von den Fesseln der vorgegebenen Zeit zu lösen und in die Wälder von Walden zu ziehen. Dort, in der Einfachheit und Stille der Natur, suchte und fand Thoreau eine tiefere Zeit – eine Zeit, die nicht in Stunden und Minuten gemessen wurde, sondern im Rhythmus der Natur, in den Jahreszeiten und in den Zyklen des Lebens selbst.

Thoreau lehrt uns, dass es möglich ist, Räume der Freiheit inmitten der Zeitdiktatur zu schaffen. Er folgte nicht den Pfaden, die ihm die Gesellschaft vorschrieb; stattdessen wählte er einen eigenen Weg, geleitet von der Überzeugung, dass ein erfülltes Leben nicht durch materiellen Besitz oder gesellschaftlichen Status definiert wird, sondern durch die Qualität der erlebten Momente und die bewusste Verbindung mit der Welt um uns herum.

Sein berühmtes Werk „Walden; oder, Leben in den Wäldern“ ist nicht nur ein Zeugnis seines Experimentes, ein Leben abseits der gesellschaftlichen Erwartungen zu führen, sondern auch eine Einladung an uns alle, zu überdenken, wie wir Zeit wahrnehmen und leben. Thoreau zeigt uns, dass Freiheit in der bewussten Entscheidung liegt, wie wir unsere Zeit nutzen, und im Mut, uns von den Ketten zu befreien, die uns an ein unerfülltes Dasein fesseln. Selbst Mahadma Ghandi berief sich mit seinem Ideal des gewaltfreien Widerstandes und seiner asketischen Lebensführung ausdrücklich auf das Werk Henri David Thoreau und es gab einige Schriftsteller, die das Thema weitersponnen. Bis hin in die 1968 Generation ist dieses Buch für unzählige Menschen ein Leitfaden gewesen.

Ein Zitat aus dem letzten Kapitel des Buches erlangte besondere Berühmtheit:

„Wozu diese verzweifelte Jagd nach Erfolg, noch dazu in so waghalsigen Unternehmungen? Wenn ein Mann nicht (Gleich-) Schritt mit seinen Kameraden hält, dann vielleicht deshalb, weil er einen anderen Trommler hört. Lasst ihn zu der Musik marschieren, die er hört, in welchem Takt und wie fern sie auch sei. Es ist nicht wichtig, dass ein Mensch so schnell reift wie ein Apfelbaum oder eine Eiche. Soll er denn seinen Frühling zum Sommer machen?“

Was wäre also, wenn wir uns von den Ketten gesellschaftlicher Zeitnormen befreien könnten? Stellen wir uns die Freiheit vor, die daraus erwächst, die kreative Energie, die freigesetzt wird, wenn wir beginnen, nach unserer eigenen Zeitrechnung zu leben. Ein Leben, das nicht in Stunden und Minuten gemessen wird, sondern in echten Erfahrungen, in Momenten der Verbundenheit, in Erinnerungen, die bleiben.

Dies ist kein einfacher Weg, doch er verspricht eine Reise zurück zu uns selbst, zu einem Ort, wo die Zeit wieder zu dem wird, was sie einst war: ein Geschenk, kein Gefängnis. Ein Raum, in dem wir wahrhaftig leben, lieben und sein können. Die Gesellschaft hat keinen solchen Platz, denn er entzieht sich ihrer Kontrolle. Trittst du dort ein, wird es der Gesellschaft nicht gefallen.

Es braucht also Mut, die Uhr anzuhalten und den Moment zu umarmen. Denn in der Tat, es ist an der Zeit, unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Es ist an der Zeit, zu erkennen, dass wir nicht verspätet sind, sondern genau dort, wo wir sein müssen: bei uns selbst.

Mir hat der Mantel unserer Zivilisation nie gepasst. Schon als kleiner junge wollte ich etwas anderes – mehr, aber mehr wovon?
Ich habe Jahrzehnte danach gesucht, nach etwas, das nur mir gehört.
Gefunden habe ich es dort, wo heute niemand mehr sucht. Innen, weit verborgen tief drin in mir. Dort, wo jeder andere vermeidet hin zu sehen, dort, wo Anerkennung und Verständnis aufhören, dort, wo einmal mein kleines 4 Jahre altes Ich zuhause war.
Und als ich diesem winzigen Wesen erklären musste, warum ich so lebe, wie ich es tat, warum ich all seine Träume und Ideen vergessen und warum ich ihn so tief in mir eingesperrt habe – da kamen mir die Tränen. Denn ich sah, wie viel Leid ich ihm bereitet habe und wie traurig ihn meine Erzählung machte. Ich habe mein eigenes Kleines Ich, meine Essenz, enttäuscht.

Es ist an der Zeit, etwas zu tun. Etwas für Dich, etwas für deine Träume. Denn Du schuldest deinen Träumen noch Leben.
Deine Zeit fließt anders als meine.
Und nur weil Du nicht dort stehst, wo die Gesellschaft behauptet, dass Du in diesem Abschnitt Deines Lebens stehen solltest, heißt das nicht, dass du verspätet bist.
Es bedeutet, dass Du DU Bist.

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