Die Weikharduhr – Eine Ode an die Pünktlichkeit

Sie hängt seit fast einem Jahrhundert am Grazer Hauptplatz und hat mehr erste Küsse, zerplatzte Verabredungen und nervöse Date-Vorbereitungen gesehen als jedes andere Denkmal der Stadt. Die Weikhard Uhr – eine unbestechliche Zeugin der Pünktlichkeit. Keine Spielereien, kein Firlefanz, einfach die Zeit, gnadenlos präzise.
Sie ist die stille Wächterin des Grazer Hauptplatzes.
Eine unerschütterlicher Beobachterin zahlloser Begegnungen, ein Denkmal der Verlässlichkeit in einer Welt, die ihre Termine längst mit einem beiläufigen „Schau ma mal“ vertagt. Seit Generationen hängt sie dort – hoch erhobenen Hauptes, wie eine strenge Gouvernante, die seit Generationen auf dieselbe Weise die Zeit ansagt – mit einem Hauch aristokratischer Verachtung für all jene, die es nicht schaffen, sich an eine simple Abmachung zu halten.
Wenn die Weikhard Uhr ein Gesicht hätte, wäre es das von Fräulein Rottenmeier – die Arme verschränkt, die Augenbrauen hochgezogen und die Armbanduhr mahnend im Blick. Ein Augenaufschlag zu spät – und sie würde dich ins Internat schicken.
Sie ist die eiserne Lady der Pünktlichkeit – unbestechlich, unerbittlich und zu tiefst enttäuscht von uns allen – das aber pünktlich!
Die Uhr selbst wurde 1930 errichtet und gehört zum Juwelier Weikhard, dessen Geschäft seit nahezu 350 Jahren am Hauptplatz in Graz die Zeit mit edlem Schmuck misst. Derweil andere Uhren hoch oben auf Türmen thronen und sich für ihr dröhnendes Glockenspiel feiern lassen, bleibt die Weikhard Uhr auf Augenhöhe – bodenständig, unaufgeregt, aber unerbittlich präzise.
Während der Grazer Uhrturm mit seinem überlangen Stundenzeiger schadenfroh „Ha! Reingelegt!“ ruft und amüsiert zusieht, wie Touristen verwirrt ihre Handys zücken, ist die Weikhard Uhr von einer anderen Sorte.
Sie hat keine Zeit für Schabernack.
Sie zeigt die Zeit so an, wie es sich gehört – zuverlässig, ohne Firlefanz, ohne interpretative Herausforderung. Wer hier zu spät kommt, kann sich nicht mit einem „Ich hab die Zeiger verwechselt“ herausreden.
Zur Anmerkung: der Grazer Uhrturm ist ein Unikat, dessen Stundenzeiger länger ist, als der Minutenzeiger – was oft für zeitliche Verwirrungen sorgte.
Aber das wahre Geheimnis der Weikhard Uhr? Sie ist mehr als ein Zeitmesser. Sie ist der Herzschlag von Verabredungen, ein Monument der Übereinkunft, der heilige Gral der Rendezvous. Jeder, der sich in Graz jemals mit jemandem verabredet hat, hat mindestens einmal in seinem Leben dieses Denkmal der Verbindlichkeit als Treffpunkt vorgeschlagen.
Sie war der Mittelpunkt zahlloser Begegnungen: ein Startpunkt für Freundschaften, für amouröse Dates und erste Küsse – für den nervösen Moment, wo man begann, ein Herz zu erobern.
Wer sich hier verabredete, erschien.
Eine Verabredung an der Weikhard Uhr platzen lassen – das war in Graz gesellschaftlicher Selbstmord.
Wer nicht auftauchte, stand am nächsten Tag unweigerlich auf der Schwarzen Liste der 2en Wahl.
Und die Mädchen merkten sich dein Versagen. Glaubt mir, ich spreche aus Erfahrung. Eine einzige versäumte Verabredung an der Weikhard Uhr, und du hattest schneller den Status eines unzuverlässigen Luftikus, als du heute ‚Bin gleich da!‘ schreiben könntest. Ich kann euch sagen: Die Weikhard Uhr hat es mir verziehen – sie hängt ja immer noch da – aber das Mädel war weg.
Wer sich zu meiner Zeit verabredete, meinte es ernst. Keine Ausreden, kein „Oh, mir ist etwas dazwischen gekommen“ – nein, so wie die Weikhardsche Gouvernante, war eine Verabredung unverrückbar und ebenso die Erwartung, dass man pünktlich aufkreuzte.
Es gibt Dinge, die sieht man und weiß sofort: Darüber wird nicht diskutiert. Die Mona Lisa – lächelt immer. Eine Ampel – regelt den Verkehr. Und die Weikhard Uhr – zeigt immer die richtige Zeit – ungerührt, unerschütterlich, gnadenlos ehrlich und sie hat mehr geplatzte Verabredungen erlebt als man sich vorstellen kann. Sie war immer da, während um sie herum Generationen kamen, gingen – oder zu spät dran waren.
Denn ja, liebe Leute, Pünktlichkeit war mal eine große Sache. Und nicht nur irgendeine, sondern eine heilige Verpflichtung. Nicht diskutier oder verhandelbar. Eine Ehrensache!
Pünktlichkeit – ist ein Relikt aus einer Zeit, als das Wort „Verabredung“ noch etwas Verbindliches hatte und nicht bloß ein loses Versprechen war, das man mit einem schnellen „Bin gleich da!“ via Whatsapp in eine Sprachnachricht goss, während man in Wahrheit noch im Pyjama auf der Couch lag.
Damals, in jener finsteren Vorzeit, als Telefone noch an Kabeln hingen und in den meisten Häusern so selten waren wie ehrliche Politiker, da war eine Verabredung ein heiliger Schwur. Kein „Ich schreib dir noch“, kein „Wir peilen so ungefähr halb sieben an“!
Wenn man sich für 18 Uhr verabredete, dann bedeutete das: Du stehst um 17:55 Uhr da, oder schreibst dein Liebes-Testament. Es war eine Zeit, in der Kommunikation nicht permanent verfügbar war und man sich darauf verlassen musste, dass der andere seinen Teil der Abmachung einhielt.
Man hatte selten eine zweite Chance. Keine schnelle Nachricht. Kein „Sorry, hat sich verzögert.“ Wer sich damals nicht an die Zeit hielt, war nicht nur unhöflich – er war eine unzuverlässige Existenz. Es gab immer einen, der Zeit ernster nahm und dann war es für einen Selbst schon wieder vorbei. Deshalb galt Pünktlichkeit als mehr als eine bloße Angewohnheit. Sie war ein Charaktertest. Ein Respektbeweis. Eine Frage der Ehre. Und des amourösen Erfolges.
Damals, als man sich oft noch per handgeschriebenem Brief verabreden musste, waren die Gelegenheiten, jemanden kennenzulernen, rar. Wo traf man sich denn? In der Schule, in der Straßenbahn, im Autobus auf dem Weg zur Lehrstelle – das war’s. Man musste den Mut aufbringen, jemanden im echten Leben anzusprechen.
Ein Telefon hatten wir erst, als ich 17 war – und glaubt mir, das war kein Fortschritt, sondern eine neue Form der Demütigung. Denn eine Sache war klar: Ich würde NIEMALS ein Mädchen anrufen, während meine Eltern im Wohnzimmer saßen und jedes Stottern mithörten.
Ich marschierte also lieber drei Kilometer zur nächsten Telefonzelle, warf ein paar Schillinge ein, räusperte mich zehnmal und wählte.
Wenn ich es überhaupt geschafft hatte, eine Telefonnummer zu ergattern – was allein schon ein kleines Wunder war, wie gesagt, hatte ja nicht jeder ein Telefon – stand ich vor der nächsten Herausforderung: denn die Angst vor einem „Nein“ war gigantisch!
Ein „Nein“ bedeutete nicht nur, dass ich mich jetzt zum Deppen gemacht hatte – es bedeutete auch, dass ich wieder Monate darauf warten musste, bis sich überhaupt mal wieder eine Gelegenheit ergab, ein Mädel anzusprechen. Ein Nein war damals ein drohendes soziales Vakuum, in dem Mut eine dringend benötigte Ressource war.
Es läutete also.
Einmal.
Zweimal.
Ich hielt die Luft an.
Dann ein Klicken – aber nicht ihre Stimme.
Sondern. Ihr. Vater!
Ein Mann, der mich nicht kannte, wahrscheinlich nicht mochte und dessen einziger Lebenszweck es zu sein schien, Verehrer seiner Tochter in Angst und Schrecken zu versetzen.
„Huber.“
„Äh … G-guten Abend, Herr Huber… äh, Thomas Speck mein Name … könnte ich bitte … also … ist die … äh …“
„WER spricht da?“
Game Over.
Man musste sich also erstmal in einem Drei-Minuten-Gespräch beweisen – quasi eine mündliche Aufnahmeprüfung mit Bestnoten bestehen – bevor man überhaupt die Chance bekam, mit Fräulein Tochter zu reden.
Heute reicht ein ja ein Swipe nach rechts und ein „Hey Zwinkeremoji“ und nennt das flirten.
Naja
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Wir sind heute stets und sofort erreichbar, jedes Kleinkind hat schon sein Handy – und genau das hat uns unverbindlicher denn je gemacht. Denn unsere Erreichbarkeit bedeutet, dass wir uns nicht mehr wirklich festlegen müssen. Wir jonglieren unsere Termine wie einen Haufen heißer Kartoffeln.
Verabredungen sind keine Abmachungen mehr, sondern eher Vorschläge, die je nach Wetterlage, Laune oder plötzlicher Lust auf Netflix über den Haufen geworfen werden.
Eine Verabredung ist eine lose Option, eine Art Platzhalter, den man nach Stimmung und eventuellen Alternativen verschieben kann.
Damals habe ich einmal meinen Bruder gebeten, zu einer Verabredung zu gehen.
An meiner Stelle.
Ich war krank – aber wie hätte ich das Rendezvous absagen sollen ohne Telefon?
Ich beschrieb ihm also exakt, wie sie aussah und wo sie stehen würde – an der Weikhard Uhr natürlich.
Für ihn war das Ehrensache, dass hat jeder von uns auch so verstanden.
Er ging hin und weißt du was?
Sie war dankbar. Weil eine Verabredung damals noch wirklich gezählt hat. Daraus entstand eine wunderbare, leider viel zu kurze Lovestory – aber das ist eine andere Geschichte.
Die leichte Erreichbarkeit von heute hat diese Verbindlichkeit aber komplett konterkariert.
Oft ist es so, dass man sich mit jemandem trifft, bis eine bessere Möglichkeit aufploppt. Selbst die liebe ist unverbindlich geworden.
Wenn man sich heute verspätet, wird nicht mal mehr nach einer Entschuldigung gesucht. Stattdessen wird die eigene Unzuverlässigkeit verteidigt:
„Ist doch nicht sooo schlimm!“, „Du bist aber empfindlich.“, „Na und, ich kann mich ja jederzeit mit wem anderen treffen.“
Die Weikhard Uhr würde heute vermutlich die Augen verdrehen (falls Uhren das könnten) und murmeln: „Wisst’s eh, dass ich hier seit hundert Jahren häng und noch NIE eine Ausrede gebraucht hab? Aber ihr? Ihr seid wie kleine Kinder, die ein Diktat verschieben wollen, weil der Bleistift abgebrochen ist.“
Es ist ja nicht so, dass Pünktlichkeit eine veraltete Idee ist. Nein, nein, sie wurde nur ersetzt. Durch Bequemlichkeit.
Früher musste man sich anstrengen, um jemanden zu treffen. Heute kann man 100-mal absagen und sich trotzdem als kommunikativ bezeichnen.
„Hey, sorry, wird später.“
„Bin gleich da!“
„Hat sich was ergeben.“
„Lass uns das verschieben.“
Die Unverbindlichkeit hat einen VIP-Status erreicht, während die Weikhard Uhr sich oben an der Wand nur denkt: „So war das aber nicht gedacht.“
Denn wer zu spät kommt, sagt im Grunde nur eines: „Deine Zeit ist mir nicht wichtig.“
Wenn dann ein Nebenbuhler Deiner Angebeteten mehr Respekt zeigte als Du, dann wars das – Chance vertan.
Trotzdem hat sich eines nie geändert: Wer pünktlich ist, hinterlässt immer den besseren Eindruck.
Auch wenn die Welt sich noch so sehr an Unverbindlichkeit gewöhnt hat – Pünktlichkeit bleibt ein Zeichen von Respekt.
Wer pünktlich ist, sagt: „Ich nehme dich ernst.“
Wer pünktlich ist, zeigt: „Ich bin zuverlässig.“
Wer pünktlich ist, beweist: „Ich bin ein Mensch, auf den man zählen kann.“
Das ist noch einer meiner Gründe, warum Pünktlichkeit zählt: Das Warten.
Ich mag Warten nicht, denn das ist keine neutrale Tätigkeit.
Warten auf Jemanden ist völlig anders, als in einem Wartezimmer auf den Arzt zu warten.
Warten auf Menschen ist eine seelische Zerreißprobe, eine Mischung aus Hoffnung, Enttäuschung und langsam aufsteigender Wut.
Es beginnt harmlos: Man schaut auf die Uhr, denkt sich „Ach, wird schon gleich kommen“.
Dann blickt man wieder – fünf Minuten vergangen.
Man verzeiht. Man ist ja kein Unmensch.
Zehn Minuten. Man blickt sich um, hält nach einer bekannten Silhouette Ausschau. Nichts.
Nach 15 Minuten aber kippt die Stimmung.
Der Blick auf die Uhr wird aggressiver. Die Gedanken schwanken zwischen „Vielleicht ist was passiert“ und „Vielleicht hält sie mich nur zum Narren“.
Nach 20 Minuten macht man erste ernsthafte Exit-Überlegungen.
Vielleicht wäre es besser, einfach zu verschwinden – aber nein, man ist doch ein anständiger Mensch.
Nach 30 Minuten ist es amtlich: Sie kommt nicht mehr.
Und so stapft man los. Nicht wütend. Nicht traurig.
Einfach nur extrem enttäuscht und gedemütigt.
Ich erinnere mich an einen solchen Moment. Eine halbe Stunde im Regen gestanden, während die Weikhard Uhr gnadenlos auf meine Dummheit herabblickte.
Und ich bin gegangen, patschnass triefend – gleichwohl vom Regen wie auch vom verletzten Stolz. Leider habe niemals eine Erklärung oder Entschuldigung erhalten.
Viele Jahre später lief mir die betreffende Person zufällig über den Weg. Und was soll ich sagen? Mein Bedarf, ein freundliches „Hallo“ auszutauschen, hielt sich doch sehr in Grenzen.
Denn ja, nach dieser Demütigung hatte sich jedes zarte Gefühl von damals nicht einfach aufgelöst – es hatte sich umgewandelt.
In Gleichgültigkeit. In Enttäuschung. Und auch in Verachtung.
Denn wer einmal gezeigt hat, dass die Zeit eines anderen ihm nichts wert ist, wird das vermutlich auch in anderen Bereichen des Lebens nicht so genau nehmen.
Und genau das ist es, was die Weikhard Uhr über die Jahre hinweg beobachtet hat.
Sie zeigt nicht nur Minuten und Stunden. Sie zeigt, auf wen man sich bei Vereinbarungen verlassen kann – und wer nur Ausreden liefert.
Sie zeigt den Unterschied zwischen ‚Auf mich kann man zählen‘ und ‚Sorry, Akku war leer.‘
Sie zeigt, wer Charakter hat. Und sie zeigt eines ganz gewiss nicht: Verständnis.
Denn eine Weikhard Uhr wartet nicht. Sie ist pünktlich – und wer das nicht ist, ist schlicht zu spät.