Autor:
Thomas Speck
Veröffentlicht am:
25. November 2025

Das verdorbene Lebensprinzip. Oder: Der freundliche Arschtritt des Universums

Fotorealistische Nahaufnahme eines komplexen Uhrwerks aus Zahnrädern, Hebeln und Metallteilen, das von einer einzelnen Sperrklinke in Position gehalten wird. Die Mechanik schwebt vor einem detaillierten, farbintensiven Bild des Universums mit Sternen, Nebeln und kosmischen Strukturen. Das Zusammenspiel aus altem Metall und weitem Weltraum erzeugt den Eindruck eines gigantischen, kosmischen Getriebes.

Man sagt ja gern: „Das Leben ist ein ständiges Vor und Zurück.“
Nur sagt das ausgerechnet immer irgendein Aussteigertyp, der weder vorwärts noch rückwärts kommt, sondern seit Jahren quer im Leben steht.

Menschen mögen solche Sätze, weil sie ihnen das Gefühl geben, es gäbe eine Art kosmisches Gleichgewicht. Nun, nach 60 Lebensjahren sag ich euch: Gibt es nicht. Kosmisches Gleichgewicht ist bloß eine Erfindung findiger Menschen, die anderen – weniger findigen Menschen – das Geld aus der Tasche ziehen und es – weil es so schön kosmisch klingt – Esoterik nennen.

Wenn es wirklich so etwas wie ein universelles Prinzip gibt, dann ist es der Sperrklinkeneffekt.
Ein großartiges Wort, das klingt, als hätte ein deutscher Ingenieur an einem Freitagabend zu wenig sozialen Kontakt gehabt und beschlossen: Ich erfinde jetzt ein Wort, damit wenigstens mein Vokabular wächst.

Der Sperrklinkeneffekt ist aber so real wie simpel:
Vorwärts geht. Rückwärts geht nicht.

Oder nur unter Schmerzen, Tränen und der obligatorischen Sinnkrise, die kommt, wenn man realisiert, dass man sich an Dinge gewöhnt hat, die man nie wollte, aber auch nicht hergeben mag.

Diese Folge entstand aus einer Challenge.
In meinem Storytelling-Workshop habe ich behauptet, man könne – mit ein wenig Übung und einem halbwegs funktionierenden Gehirn – aus einem einzelnen Wort – denn tunlichst ein Hauptwort – eine Geschichte bauen.
Eine Teilnehmerin hat mich später freundlich kontaktiert und doch recht bestimmt darauf festgenagelt und meinte, ich solle das doch bitte beweisen und gleich eine Social-Media-Challenge daraus machen.
Gesagt, getan.

Ich habe die Challenge auf Bluesky und Mastodon – meinen Social-Media-Schauplätzen – ausgerufen. Und kaum war der Aufruf draußen, flog mir auch schon das Wort „Sperrklinkeneffekt“ um die Ecke entgegen.
Absender: Thomas Michl. Thomas Michl ist Management-Blogger und Lean/Agile-Denker, der zeigt, wie man im Gewirr moderner Wirtschafts- und Organisationswelt sichtbare Schritte macht — und manchmal den unsichtbaren Knoten erkennt. Einen seiner Sätze mag ich sehr – keine Ahnung, wo er ihn geklaut hat: „Eine Kompetenz, die immer weniger Menschen beherrschen, ist es, etwas unkommentiert stehen zu lassen.“
Da hat er wohl Recht.

Sperrklinkeneffekt also. Ich vermute ja, Thomas saß grinsend vor seinem Bildschirm, als er es abgeschickt hat.
Nun denn, Herausforderung akzeptiert.

Eine Sperrklinke kennt jeder – die meisten ohne es zu wissen.
Dieses abgeschrägte Metalldingens – ok, bei Ikea ist das neuerdings aus Plastik, weil Metall wohl zu teuer ist – an einer Tür, das ins Schloss fällt, wenn man sie zudrückt?
Genau das. Sperrklinke.

Das lässt die Tür zuschnappen, aber nicht von selbst wieder aufgehen.
Ein Einwegmechanismus. Technisch gesehen nennt man das bei der Tür eher „Falle“ oder „Türfalle“ – was bei mancher Wohnungstür erstaunlich gut passt, rein kommst du leicht, raus eher wie ein schlecht trainierter Waschbär aus der Biotonne.
Egal wie es an der Tür heißt: Das Prinzip bleibt dasselbe: Ein Bauteil, das sagt: Zumachen darfst du, und wenn du es wieder aufmachen willst, reagiert der Hausmeister beleidigt.

Die Sperrklinke erlaubt Bewegung in eine Richtung und blockt in der anderen.
Eine Ratsche, ein Fahrradfreilauf, ein Gurtaufroller – alles Sperrklinken.
In der Mechanik sind sie ganz nützliche Vorrichtungen. Im Leben aber sind sie eher miese kleine Scheißerchen.
Es gibt diese merkwürdigen Momente, in denen man plötzlich auf einer höheren Stufe als zuvor steht. Nicht, weil man dort hingehört, sondern weil man, bildlich gesprochen, von einer Kombination aus Zufall, gesellschaftlicher Erwartung und einer besonders energischen Bekannten dorthin hochgeschoben wurde.
Neue Wohnung. Höheres Gehalt. Eine Kaffeemaschine, die mehr Funktionen hat als man soziale Kompetenzen. Das volle Programm des gehobenen Kleinbürgertums.

Und schwupps: Man bildet sich ein, das sei jetzt der neue Standard. Dazu die stille Überzeugung, dass es nun selbstverständlich immer so weitergeht.
Und dann kommt – wie ein Naturgesetz – der Rückschlag.
Unspektakulär, unfeierlich, unbeeindruckt.
Die wirklich relevanten Katastrophen des Lebens kündigen sich ja nie an.
Sie erscheinen als Kontostand, als Email, als medizinischer Befund, oder – besonders hinterhältig – als der Satz: „Wir müssen reden.“

Und in diesem Moment zeigt das sogenannte Universum, was es wirklich ist: ein großes Arschloch, dem gerade langweilig ist. Es dreht einfach an der Lebenskurbel, während man selbst gerade noch hoffen kann, es hätte wenigstens die Betriebsanleitung gelesen. Hat es aber nicht.
So steht man plötzlich vor einer Tatsache, die man ungern auf Instagram teilt: Man muss zurück.
Zurück auf eine Stufe, die man zwar kennt, aber nicht mehr erträgt, weil man sie mit seinem vorherigen Ich verbindet. Ein Ich, das man doch eigentlich, mit viel Mühe und mehreren Ratenzahlungen, hinter sich gelassen hatte.
Nicht weit – aber weit genug, dass einem das frühere Niveau vorkommt wie ein geschmackloses Souvenir, das man nie wieder besitzen möchte.

Genau hier schlägt der Sperrklinkeneffekt zu: Das Alte ist nicht mehr das Alte.
Es ist jetzt das, was man eigentlich nie haben wollte.
Natürlich stemmt sich der moderne Mensch dagegen.
Man klammert sich an den mühsam errungenen Status wie ein Ertrinkender an eine Packung Strohhalme.
Doch das Leben – ein Organismus von bemerkenswerter Gleichgültigkeit – spielt mit den Hebeln des Schicksals, und irgendwo im Hintergrund deines Gehrins erklingt das unvermeidliche Geräusch: KLACK
So klingt es, wenn die eigene Würde ein Firmware-Downgrade verweigert.

Und selbstverständlich schämt man sich.
Denn Fortschritte darf jeder feiern.
Rückschritte hingegen?
Die werden behandelt wie eine ansteckende Hautkrankheit. Da ist man schnell ein „Der ist aber schön auf die Schnauze gefallen“ Typ.
Das ist ein bisschen wie beim Monopoly: Sobald du einmal ein Hotel hattest, siehst du die Startstraße nur noch als primitive Architektur.

Man fällt also. Selten wirklich tief.
Aber weit genug, um zu merken, dass Gewohnheit ein unfolgsamer Köter ist, der ausschließlich nach vorne läuft – und bei Zuruf nur den Kopf schieflegt.

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Man könnte jetzt einwenden, dieses ganze „Programm des stetigen Aufstiegs“ sei eine reine Privatangelegenheit. Aber das wäre falsch.
Esoteriker würden jetzt behaupten, dein Rückschritt sei ja der Balance geschuldet. Niemand darf mehr aus dem energetischen Gleichgewicht nehmen, als ihm zusteht. Das Leben bestraft einen ja dafür.
Komisch, und dann gibts Typen wie Elon Musk oder die orange Trompete im weißen Haus – beide offensichtlich mit einer Dauerfreigabe für kosmisches Überziehen.

Dieses ganze Gerede vom kosmischen Gleichgewicht ist ja nett, aber in der Wirtschaft glaubt das keiner. Dort gilt ja die Regel: Der Markt hat gefälligst nur eine Richtung zu kennen.
Rauf. Immer rauf.
Alles andere wäre schlechter Stil oder, noch schlimmer, eine Enttäuschung für Aktionäre, die den Hals traditionell nur aus einem Grund haben: um ihn niemals vollzukriegen.
Selbst dann, wenn der Markt schon röchelt wie ein Marathonläufer bei Kilometer 39.

Aktionäre jedenfalls sind die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten, die Marktsättigung als persönliche Beleidigung empfinden – schlimmer noch als Hausschweine, die den leeren Trog auch nicht mögen.
Stell dir mal vor, ein Unternehmen müsste sich tatsächlich gesundschrumpfen.
Also wirklich.

Nicht dieses „Wir restrukturieren, indem wir die unteren zwei Etagen absägen und oben neue Balkone dranschrauben“, sondern ernsthaft: kleiner werden.
Weniger Umsatz, weniger Wachstum, weniger Tam-Tam.
Allein bei dem Gedanken kriegen Vorstände Ausschlag.

Arbeitsplätze? Gott, ich höre sie in der Chefetage sogar noch hier unten im Keller lachen. Arbeitsplätze sind ja nur dann ein Argument, wenn’s ums Steuern sparen geht. Sonst nennt man sie „Kostenblöcke“ oder – mein Lieblingswort – „Ressourcen“. Ressourcen, die leider atmen und furzen und nicht stapelbar sind.

Aber stell dir vor, der feine Herr Aktionär – oder seine Frau, die ab und an im Beirat sitzt, weil man Diversität ja irgendwo reinpinseln muss – müsste mal auf eine Auszahlung verzichten.
Nur ein einziges Mal. Eine winzige Dividende weniger.
Der absolute Weltuntergang. Da würde sofort das ganze Weltbild zusammenbrechen, inklusive der Ferienvilla am Gardasee, die dann plötzlich aus Prinzip nicht mehr bewohnbar wäre – man hat sie, wie der schlaue Herr Benko in einer privaten Stiftung geparkt. Da ist sie zumindest noch ein Asset – unbewohnbar, aber ein Asset.

Und genau hier zeigt sich der Sperrklinkeneffekt in seiner wirtschaftlichen Höchstform:
Ein Unternehmen darf wachsen, wachsen, wachsen, bis es aussieht wie ein Hefeteig mit Schilddrüsenüberfunktion. Aber kleiner werden?
Zurück? Umsatz runterfahren?
Das ist tabu. Das ist Ketzerei.
Das ist, in der Sprache der Börsenanalysten, ein „negatives Signal“ – was frei übersetzt bedeutet: „Iiiiih, mach das weg!“

Die Wirtschaft ist die einzige Institution, die den Sperrklinkeneffekt nicht nur besitzt, sondern auf Steroiden betreibt. Vorwärts immer. Rauf immer.
Und selbst wenn der Laden schon Sand hustet wie ein ausgedörrter Brunnen in der Sahara, winkt man fröhlich mit PowerPoint-Folien und sagt: „Da geht noch was! Schaut mal, wir haben da noch eine Synergie im Keller gefunden!“

Und wenn es dann wirklich nicht mehr geht – wenn die Zahlen rot glühen und der CEO unterm Tisch leise in eine Serviette weint – dann nennt man es „Kurskorrektur“.
Nicht Rückschritt.
Nein, nein. Das ist nicht Investorenkompatibel.
Diese Schönfärberei nennt man Spin.

Also baut man einen neuen Geschäftsbereich, der exakt dasselbe macht wie der alte – nur mit einem englischeren Namen – und behauptet, dass man damit „strategisch nach vorne“ gehe. Volkswagen lässt grüßen. Die fahren auch mit offenen Augen in eine Betonwand – Hauptsache, der Spin verkauft die Wand als „neue Chance“.
Das, meine Damen und Herren, ist der Sperrklinkeneffekt: Ein System, das lieber stirbt, als sich zu verkleinern. Aber Vernunft gilt in der Wirtschaft als Betriebsstörung.

Die Wirtschaft hat Herrn Vorwärts ein eigenes Büro gegeben, eine Firmenkarte und ein Jahresabo für die Business Lounge. Und Herrn Rückwärts in den Keller verbannt.
Herr Vorwärts darf alles.
Herr Rückwärts darf nichts.
Dabei wäre Rückwärts manchmal notwendig, manchmal heilsam, manchmal schlicht überlebenswichtig – doch in der Wirtschaft ist Rückwärts eine Blamage, ein Kontrollverlust, ein Makel im heiligen Business-Chart.
Und falls doch mal zurückgehen muss, bekommt es sofort ein neues Logo und wird als Fortschritt verkauft.

Alle wissen das – und trotzdem werfen Investoren Millionen hinterher, weil sie selbst auf einer Sperrklinke sitzen: vorwärts hypnotisiert, rückwärts blockiert.
Damit es wenigstens gut aussieht.

Der Sperrklinkeneffekt war nie ein Lebensprinzip.
Wir haben ihn dazu gemacht.
Ein Geschäftsmodell, nach dem wir leben – ein verdammt erfolgreiches noch dazu.
Und garstig in seiner Wirksamkeit, weil er vorgibt, Fortschritt zu sein, während er in Wahrheit nur verhindert, dass irgendjemand jemals das Wort „Entwicklung“ sagt.

Und das Universum?
Dieses große, kosmische Arschloch, das angeblich alles liebt, in Wahrheit aber nicht einmal unsere Anwesenheit bemerkt?
Das lässt uns weitergockeln – wie aufgescheuchte Hühner nach einem Feueralarm – und lässt uns gelegentlich vom eigenen hohen Ross purzeln.
Die Einzigen, die daran einen Sinn erkennen wollen, sind Esoteriker. Für die ist es natürlich ein liebevoller Energiesprudler mit persönlichem Entwicklungsplan – solange man pro Sitzung 120 Euro kassiert und die aus diesem himmlischen Desinteresse eine Werbelinie gestrickt haben:
„Das Universum meint es gut.“
Tut es nicht. Es meint gar nichts.

Am Ende ist der Sperrklinkeneffekt nichts Mystisches oder Spirituelles, nichts, was sich mit Klangschalen oder Räucherstäbchen wegmassieren ließe.
Vorwärts klackts, rückwärts krachts – und irgendwer verkauft einem die Geräusche auch noch als Persönlichkeitsentwicklung. Dabei ist es schlicht die Einbahnstraße, auf die uns die Gesellschaft schickt – und wir klackern brav mit, immer nach vorn, weil niemand den Schraubenzieher sucht, der das Ding lösen könnte.

Vielleicht ist der kosmische Arschtritt eine freundliche Erinnerung daran, dass das Leben dich nur deshalb rückwärts schubst, damit du nochmal so richtig Anlauf nehmen kannst?
Alles andere sind Geschichten für Esoteriker und Aktionäre.

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