Edgar goes Erleuchtung – Vom Influencer zum Innerfluenzer

In dieser Episode unternimmt Edgar – der unvergleichliche Prinz der Selbstdarstellung – eine Reise, die nicht weniger als seine „innere Erleuchtung“ verspricht. Nach unzähligen Followern und einem Alptraum vom alten Mann mit dem Buch (ja, der Mann vom Café, der echte Gespräche statt Likes pflegte), begibt sich Edgar in ein Bali-Retreat.
Erinnert ihr euch noch an Edgar?
An den Prinzen der Selbstdarstellung aus der Episode Buchzauber in diesem Podcast?
Seine Erlebnisse haben Spuren hinterlassen. Nicht nur digitale, gemessen an Followern und Likes, sondern reale Folgen.
Denn seit jenem Tag im Café verfolgt Edgar ein beklemmender Traum. Immer wieder wacht er schweißgebadet auf, das Bild des alten Mannes mit dem Buch tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Dieser Mann, umgeben von einer Gruppe Menschen, die tatsächlich… miteinander reden. Kein Smartphone weit und breit, nur Worte, die durch den Raum hallen wie aus einer längst vergessenen Epoche.
Und Edgar, König des digitalen Zeitalters, unfähig, sich abzuwenden. Der Traum fühlt sich so real an, dass ihm die Eingeweide schmerzen. Und jedes Mal, wenn er erwacht, bleibt eine seltsame, nagende Leere – als ob ihm tatsächlich etwas fehlen könnte.
Immer wieder hört er die sanfte Stimme des Mannes, wie sie ihn einlullen will in diese seltsamen Geschichten aus diesen komischen Büchern, die der Alte las.
Jedesmal schüttelt er den Gedanken ab.
Er ist Edgar, was sollte ihm schon fehlen?
Doch etwas trieb ihn an, etwas Unausweichliches. Vielleicht diese unkontrollierbare Furcht, dass sein Leben zu einer Karikatur geworden war, eine Rolle, die er nicht wirklich hinterfragen wollte. Er scrollte durch seine Feeds, suchte nach irgendetwas, das ihn… berühren könnte. In einem Anflug von Spontaneität – oder vielleicht purem Zynismus – beschließt Edgar, sich selbst auf die Probe zu stellen: ein Selbstfindungs-Workshop.
Natürlich nicht, weil er das ernst nimmt – das wäre ja unter seinem Niveau. Er, Edgar, als Suchender? Lächerlich. Nein, das Ganze soll ein Experiment sein, eine amüsante Studie, die er in unzählige Beiträge und Stories verbraten könnte.
“Selbstfindung auf Bali – allein das klingt schon nach einem perfekten Hashtag. Vielleicht etwas wie #WegzuMir. Oder besser: #InnerJourney – kurz, prägnant, und es wirkt fast so, als hätte das eine echte Substanz.”
Also baut Edgar sein Narrativ auf, breitet es mit Posts und Bildern aus:
Drei Burnouts habe er überlebt – so schreibt er, vier Meditations-Apps abonniert, und sogar eine Yogamatte gekauft. Diesmal, ja diesmal, wird er sein wahres Ich finden.
Wo? Nun, na in einem Bali-Workshop, das passt am Besten zum Image.
Bali also, wo man sich fünf Tage lang mit anderen Erleuchtungs-Suchenden in das Konzept der Selbstfindung hineingräbt. Eine innere Reise für das stolze Ticket von 2.500 Euro – Ein Schnäppchen.
„2.500 Euro für Erleuchtung – ich meine, wenn das nicht das Preis-Leistungs-Verhältnis des Jahrhunderts ist. Auch wenns totaler Unsinn ist, kann ich immer noch das Video von der ‚Erleuchtung‘ als ‚authentischen Moment‘ posten. Perfekt für den Feed.“
Er scrollt durch die Rezensionen des Retreats: „Life-changing!“ „Ich habe endlich gelernt, loszulassen und mein inneres Licht zu akzeptieren!“ Die Google-Bewertungen sind atemberaubend: Fünf Sterne, bis zum Rand gefüllt mit Kommentaren, die so poetisch klingen, dass selbst ein Goethe-Fan feuchte Augen bekäme. Da erzählt ein Philipp, wie er durch das Ritual des „Seins im Nichts“ sein Selbst entdeckt hat – und dabei der Schale einer Avocado begegnete. Ein Erlebnis, das eigentlich für den Nobelpreis in Pseudowissenschaft prädestiniert wäre.
Edgar klickt auf „Buchen“ und fühlt, wie sich das innere Schwingen des Universums sanft in seinem Bauch ausbreitet. Endlich mal etwas für sich selbst tun!
Sich von den Zwängen der kapitalistischen Welt abheben – und dafür einen signifikanten Teil seines Gehalts opfern. Denn wahre Selbstfindung hat ihren Preis, und der ist nicht billig.
Doch wenn er an die Resonanz dachte, die seine Posts dabei auslösen werden, wurde ihm richtig warm ums Herz.
Edgar packt. Kleidung und Sanitärprodukte in einer Reisetasche und sein Aufnahme Equipment in sein Handgepäck.
“Nicht auszudenken, wenn das verloren gehen würde, alles andere kann ich nachkaufen.“
Die Yogamatte muss natürlich mit – aus Kork, sonst würde der Selbstfindungsprozess glatt zur Ökokrise werden. Seine Korkmatte war ein Statement! Eine Erklärung an die Welt: Ich kümmere mich um die Erde, auch wenn ich dabei weit fliege. Nachhaltigkeit ist schließlich nur dann sinnvoll, wenn sie auch gut aussieht.
Für alles was er packt, hat er natürlich bereits eine Affilliate Link Seite angelegt – soll sich ja auch lohnen, das Ganze.
Noch bevor er abflog, postet er alles mit dem Hashtag #ReadyForEnlightenment, was ihm einige Hundert Likes bringt, noch bevor er überhaupt losgeflogen ist.
So landet Edgar drei Tage später, getrieben vom Echo seines Albtraums, in einem milchig-weißen Raum, leicht überbelichtet – in seinem Ashram auf Bali, das vom Design irgendwo zwischen sterilem Sanatorium und hipper Start-up-Ästhetik schwankt.
Da sitzt er nun, unser Held des modernen Lebens, die Stirn in Falten gelegt und das Smartphone wie einen wertvollen, uralten Kompass umklammernd. Sein treuer Begleiter: eine Wasserflasche aus recyceltem Plastik, auf der das Versprechen prangt: Stay Hydrated, Stay Pure. Das macht sich prima auf Social Media!
Im Seminar angekommen, sitzt er zwischen Gleichgesinnten – allesamt mit dem verkrampften Ausdruck verzweifelter Erwartung auf ihren Gesichtern. Da ist Anna, die sich „endlich von der Corporate-Welt lösen“ möchte, während sie noch einen letzten, panischen Blick auf die Slack-Nachrichten wirft.
Und Lukas, der über sein „inneres Kind“ sprechen möchte, aber sicherheitshalber seine Follower in Echtzeit auf dem Laufenden hält. Selfies vom Findungsprozess inklusive – denn wenn keiner zusieht, ist man dann überhaupt auf der Reise?
Anna erzählte gerade, dass sie die letzten Jahre völlig durchgearbeitet hatte und nun ganz ‘bei sich’ ankommen wolle. Edgar hörte halb zu und überlegte, ob #BurnoutRecovery und #JourneyToMyself wohl gut zusammenpassen würden. Er gab sich Mühe, ernst zu schauen, aber innerlich bereitete er seine eigene Story vor. Schließlich hob er die Hand und sagte irgendwas über die ‘Abgründe der Selbstdarstellung in der modernen Welt’ und wartete, ob Applaus oder Likes kämen. Ist ja auch fast dasselbe.
Okay, bei den Gesichtern hier – das schreit geradezu nach einem Story-Takeover. Vielleicht ein kleines Highlight: ‚Mit Gleichgesinnten auf der Suche‘. Und nach dem Workshop alle fleißig taggen, um die Reichweite zu boosten. Networking in der Höhle der Selbsterkenntnis – warum nicht?
Zum ersten Mal im Leben Edgars wird er damit konfrontiert, still zu sein. Meditation stellt sich als gigantische Herausforderung dar: „Okay, Augen zu, und atmen. Langsam ein und aus… ein und… Mist, habe ich die Ladekabel gepackt? Ah, loslassen. Wiederholen wir: einatmen, ausatmen. Okay. Hört das blöde Klatschen von Flipflops draußen im Gang eigentlich jemals auf?“
Loslassen, atmen – ein und aus … ein kurzer Moment.
Ein winziger Augenblick der Ruhe. Die Geräusche verblassen, das Licht durch die geschlossenen Lider wird sanfter, und für den Bruchteil einer Sekunde spürt Edgar etwas Seltsames: Stille. Nicht die Abwesenheit von Geräuschen, sondern diese andere, fremde Art von Stille, die sich tief in der Brust ausbreitet. Sein Atem wird langsamer, und plötzlich… ist da nichts. Kein Bild, kein Hashtag, nur dieses eigenartige Gefühl von – war das Frieden?
Doch kaum hat sich dieses Gefühl in ihm geregt, schießt der Gedanke wie ein Blitz zurück: Warte mal, dieser Ausdruck in meinem Gesicht – das wäre ein perfektes Foto. Vielleicht so ein Close-up von meinem entspannten Gesicht, mit dem Untertitel „Stille ist der neue Luxus“. Das geht bestimmt viral!
Und da war die Stille schon verschwunden.
„Wie hält der Guru nur diesen Schein des Friedens aufrecht? Vielleicht sollte ich mir ein Lächeln einüben, das so rein ist wie seines – die Leute lieben diesen ‘Zen-Guru-Look’.“
Jeder Tag begann früh morgens mit einem Sonnenaufgangs-Ritual:
Sie standen in einer Reihe am Strand, in den Morgen gehüllt, die Sonne ging ruhig auf, während der Guru irgendwo ein stilles Lied murmelte. Edgar nahm sein Handy, hielt das perfekte Bild fest, während der Guru flüsterte: ‘Lasst die Gedanken los…’ Edgar schob das Handy weg. ‘Okay’, dachte er, ‘nur für heute’. Aber morgen früh, da wird dieses Bild alle Weiten sprengen. Er konnte die Kommentare schon sehen: ‘Wow’, ‘Sooo inspirierend’, ‘Will auch dort sein!’ Und das alles für ein Foto, das der Guru ohne Beweise für einen Witz halten würde.
Das einzige, wo er wenig Worte verlor, war das Essen dort. Er hasste es, zu fremdartig, zu Yoga und das Buffet war viel zu schlicht, um auf Instagram verkaufbar zu sein, oder?
Edgar lächelte gezwungen, während er auf einen Löffel voller mystischer ‘Lotusblüte im Chia-Mantel’ starrte. Man hatte ihm versichert, sie würde die Aura erhellen und die Chakren in neuen Fluss bringen. Geschmacklich lag sie jedoch irgendwo zwischen abgestandenem Tee und nassem Karton. Aber ein paar Fotos für den Feed waren Pflicht – der Hashtag #EatPrayVegan kam quasi von allein.
“Ha, ich schaffe sogar aus Nonsens noch einen Erfolg zu machen, bin ich gut oder bin ich gut?”
Am dritten Tag steht Edgar in einem Kreis, umgeben von aufgereihten Heilsteinen, deren angebliche Kräfte von einem Guru erklärt werden, der in einem Jahr vermutlich mehr Umsatz macht als der Wirtschaftssektor einer Kleinstadt.
Der Guru hebt ein Rosenquarz in die Höhe und erklärt, das sei der Schlüssel zur „Herzöffnung“ und Edgars erster Gedanke ist: “Oh, perfekt, das wird der neue Avatar für meinen WhatsApp-Status.” Und dieser ‚Herzöffnungs‘-Quatsch – das könnte ein perfektes Zitat für einen Post sein, wenn man es ein bisschen aufpoliert. Vielleicht mit einem sanften Filter. So was wie: ‚Das Herz öffnet sich nur, wenn du bereit bist, die Wahrheit zu umarmen.‘ Ja, das könnte funktionieren.“
„Spürt die Energie“, fordert der Guru weiter. Edgar versucht, die Energie zu spüren. Aber was er wirklich spürt, ist der plötzliche Drang, sein Konto zu checken – und die bittere Erkenntnis, dass ein Rosenquarz wohl kaum die baldige Rücklastschrift vom Yoga-Retreat verhindern wird.
Am letzten Tag folgt das Finale: Eine „Rebirth-Zeremonie“. „Lasst all eure vergangenen Ichs los“, ruft der Guru, der selbst ein dezent makelloses Instagram-Profil führt und in der Freizeit offenbar auch ein schickes Boot besitzt. Die Teilnehmer schließen die Augen und stoßen „Ahhhhms“ aus, die wie das kollektive Stöhnen einer Gruppe verkühlter Narwale klingen.
Edgar tut es ihnen gleich. Ahhhhm. Die Vibration im Brustkorb überrascht ihn. Sie ist nicht unangenehm. Eigentlich fühlt es sich… befreiend an. Ein merkwürdiges Ziehen breitet sich in ihm aus, als ob da etwas ganz tief unten in ihm aufbrechen möchte. Für einen flüchtigen Moment spürt er eine seltsame Wärme, als ob er wirklich etwas loslassen könnte. Etwas Echtes.
„Ist das… bin das ich?“ denkt er verwirrt. Das könnte der Moment sein, von dem alle reden. Die große Erkenntnis. Die Stimme des alten Mannes aus dem Café damals flüstert in der Ferne, kaum hörbar, aber da.
Doch bevor er diesen Gedanken zu Ende denken kann, reißt ihn eine andere Stimme aus der Tiefe seines Bewusstseins:
„Mann, wenn ich DAS hier in einem Reel verpacke – ‚Mein Rebirth-Moment‘ mit sphärischer Musik im Hintergrund – das wird durch die Decke gehen! Das muss als Video festgehalten werden!“
Vielleicht in Schwarz-Weiß und mit diesem leichten Vintage-Filter, dann sieht’s so aus, als wäre er wirklich erleuchtet worden.
„Etwas dazu schreiben wie: ‚Die wahre Reise beginnt dort, wo wir das Alte loslassen.‘ Das ist ein garantierter Hit.“
Und dann spürt Edgar es plötzlich – eine Erleuchtung. Nein, kein inneres Licht, sondern ein blendender Strahl der Realität.
„Inneres Wachstum!“ Der Ausdruck könnte zum Slogan werden. ‚Du willst mehr als nur Likes – finde deinen Kern.‘ Oder wie wär’s mit ‚Finde das Licht in dir’… Kann das eigentlich Markenrecht werden? Edgar sieht schon das Logo vor sich – ein leichter Zen-Kringel und darunter ‚Edgar Mind-Coach‘. „Das bringt Reichweite, garantiert.“
Am Rande seines Bewusstseins klingen leise Worte in seinem Verstand, eine ferne Mahnung.
Doch sein Verstand rast zu neuen Höhen auf, übertönt jeden inneren tiefen Dialog: “Warum fällt jeder außer ihm bloß auf das Blendwerk so leicht herein?”
Er muss es wissen, denn sein eigenes Leben ist ein einziges Leuchtfeuer der Blendung, er erkennt die Methoden schon aus einer Meile Entfernung. Hat er sich nicht selbst zum Meister der Blendung erhoben, jedoch nie erkannt, wie er deutlich mehr daraus schöpfen könnte, als bloß aus Social Media Follower zu lukrieren? Hier wird ihm schließlich gezeigt, wie man Blendwerk in ein Geschäft verwandelt!
Und so flog Edgar wieder heim. Natürlich nicht ohne Posts mit Bildern vom Flug, den Wolken und dem üblichen Hashtag #heiminsLeben.
Kaum am Gate angekommen, überprüfte Edgar die Resonanz auf seine #InnerJourney-Posts: Hunderte Likes, eine Handvoll Kommentare, die sagten, dass er ja schon immer eine ‘tiefe Seele’ gewesen sei. Er grinste zufrieden. Er war jetzt offiziell ein moderner Erleuchteter, ein Social-Media-Monk, ein digitaler Wegweiser zur Selbsterkenntnis. Die Enttäuschung über den Sonnenbrand, das Essen und die lästigen Mücken von letzter Nacht war schon fast vergessen.
Und dann geht ihm das letzte Licht auf: Das ist der Grund, warum er überhaupt dort gewesen war! Er wusste jetzt, was er den anderen voraus hatte: den perfekten Blick fürs Marketing.
Und schon beginnt in ihm der Masterplan zu reifen:
Er könnte ein paar coole Zitate über seinen „inneren Wachstumsprozess“ schreiben, vielleicht einen Blog starten, durch den er anderen helfen kann, sich selbst zu finden… und das Ganze als Lebensberater monetarisieren.
Für einen winzigen Augenblick, als Edgar gerade den ersten Entwurf seines neuen Coaching-Programms betitelte („Finde das Licht in dir – mit Edgar“), flackerte etwas auf. Ein kaum hörbares Flüstern in den hintersten Winkeln seines Geistes, wie das leise Umblättern einer Buchseite.
Doch dann summte sein Handy. Ein neuer Kommentar auf seinem letzten Post:
„Du bist so inspirierend, Edgar!“ Er grinste breit, tippte eifrig seine Antwort.
Das war der Moment, in dem die sanfte Stimme des alten Mannes vom Cafe damals, jene Stimme, die ihn in seinen Träumen begleitete und seine Aufmerksamkeit verlangte, endgültig starb.