Autor:
Thomas Speck
Veröffentlicht am:
12. Dezember 2024

Frau Doktor – Adel auf Rezept

Eine idyllische Dorfansicht aus der Vergangenheit, mit Bauernhäusern, einer Kirche und einem kleinen Laden. Im Vordergrund läuft eine elegant gekleidete Frau über das Kopfsteinpflaster, während Dorfbewohner respektvoll aus der Ferne zusehen.

In dieser Episode nimmt Thomas uns mit auf eine Reise in die vergangene Dorfidylle, in der die „Frau Doktor“ nicht nur die Gattin des einzigen Arztes war, sondern eine wahre Institution. Mit einer Mischung aus Nostalgie und scharfem Spott beschreibt er, wie sich der Doktortitel durch die Heirat automatisch auf die Ehefrau übertrug – als wäre er eine Auszeichnung, die man bei der Hochzeit auf dem Silbertablett serviert bekam.

Gehen wir einmal etwas in der Zeit zurück, als der Feminismus noch ganz andere Auswirkungen hatte, als es heute der Fall ist?
In der guten alte Zeit, als „Frau Doktor“ zu sein ein Karrieresprung war, der durch die Heirat mit einem approbierten Herrn ermöglicht wurde. Man heiratete nicht nur einen Mann, sondern einen akademischen Grad – sozusagen eine Promotion durch Vermählung.

In diesem idyllischen Dorf, wo ich aufwuchs und das so konservativ war, dass der Fortschritt sich beim Anblick der Kopfsteinpflasterstraße dreimal überlegte, ob er hier wirklich langgehen sollte, lebte besagte „Frau Doktor“. Sie war die Gattin des einzigen Arztes weit und breit und genoss das Prestige ihrer Anrede in vollen Zügen.

Die gute Frau Doktor hatte ihre Rolle voll und ganz verinnerlicht. Jeden Mittwoch um drei war „Visite“ – da durchschritt sie in hochgekrempeltem Kaschmir und frisch frisiert den Dorfplatz, auf dem Weg zum Tante-Emma-Laden. Ihr Rücken gerader als ein Besenstiel, stolzierte sie einher, als sei sie auf einer Audienz beim Kaiser höchstpersönlich. Die Dorfbewohner, die ihre Besorgungen tätigten, verneigten sich in geducktem Respekt, manche aus Gewohnheit, andere aus Angst, von Frau Doktor abgemahnt zu werden, wenn sie beim nächsten Wehwehchen beim Herrn Doktor vorstellig wurden. Denn sie hatte sich quasi zur inoffiziellen Empfangsdame der Dorfmedizin ernannt – jeder, der eine Sprechstunde wollte, musste erst an ihr vorbei.

„Ja, grüß Gott – Die Frau Anna vom Buchner-Hof, was ist es denn diesmal, wieder der Ischias?“ „Ja, Frau Doktor, der zieht wieder bis in die Zehen.“ „Dann muss der Herr Doktor Ihnen wohl ein neues Rezept ausschreiben. Aber nicht, dass Sie die Tropfen wieder mit Schnaps runterspülen, wie letztes Mal!“

Frau Doktor war eine Institution im Dorf – nicht nur als Gattin des Arztes, sondern als Verkörperung von Respekt und Autorität. Wenn sie beim Tante-Emma-Laden einkaufen ging, war das weniger eine alltägliche Besorgung als vielmehr eine öffentliche Inspektion. Die Ladenbesitzerin, Fräulein List, warf jedes Mal hektisch noch ein paar Staubwedel hinter die Regale, sobald das goldene Türglöckchen klirrte und Frau Doktor mit majestätischer Haltung den Raum betrat. Es hieß, sie könne mit einem einzigen Blick erkennen, ob die Ware frisch war oder ob die Tomaten schon gestern hätte geliefert werden müssen.

„Ach, Frau Doktor, da sind Sie ja wieder! Frisches Brot ist heute gekommen – vom Bäcker in der Stadt, ganz fein gemahlenes Mehl, Sie werden begeistert sein!“ „Fräulein List, wissen Sie, der Herr Doktor und ich legen besonderen Wert auf unser Frühstück. Schauen Sie bitte, dass die Butter dieses Mal nicht so schmierig ist wie letzte Woche.“ „Natürlich, Frau Doktor, selbstverständlich! Ich packe Ihnen gleich das Beste ein!“

Die anderen Dorfbewohner, die gerade im Laden standen, hielten natürlich den Atem an. Niemand wollte ihr ins Gehege kommen, während sie ihren Einkauf tätigte. Die Weiber vom Stiegl-Bauernhof flüsterten leise untereinander: „Hast du’s gehört? Schmierig, hat sie gesagt. Die Butter war ihr zu fettig.“ Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und für die nächsten Wochen war die Butterauswahl im Laden ein hochkritischer gesellschaftlicher Punkt für Klatsch und Tratsch.

Auch wir Kinder standen vor ihr, als hätte uns der Heilige Geist höchstpersönlich aufgerichtet. Frau Doktor war nicht einfach eine erwachsene Person – sie war fast so einschüchternd wie der Herr Pfarrer, wenn er bei der Beichte unseren Fleiß in der Schule hinterfragte. Wenn sie uns auf dem Schulweg begegnete, hielten wir die Luft an, bis sie vorbeigeschritten war. Und wehe, sie fragte: „Na, wie schauts mit den Hausaufgaben aus, Thomas?“ – dann stammelten wir zusammenhangslose Entschuldigungen, als wären wir zu einem mündlichen Examen geladen.
Schließlich kannte sie jeden Lehrer in der Schule, die meisten Lehrerinnen trafen sich mit ihr im örtlichen Kaffeehaus zu einem schmucken Kränzchen einmal die Woche. Und da sie, die Familie Doktor, mit der Direktorin der Schule bestens befreundet waren, konnte man sich sicher sein, das Frau Doktor genauestens Bescheid wusste, über meine Schulaufgaben. Die Direktorin mussten wir übrigens Frau Professor nennen – ihr Mann war schließlich einer an der Universität in der Stadt.

Keiner von uns hätte es gewagt, vor Frau Doktor auch nur den Hauch von Unhöflichkeit zu zeigen. Es hieß sogar, der alte Schorsch habe einmal seinen Hut nur halbherzig gelüftet, als sie an ihm vorüber schwebte, und prompt am nächsten Tag einen Hexenschuss bekommen – die Götter wussten eben, wie man Respektlosigkeit bestrafte. Das machte uns das ganze natürlich nur noch unheimlicher.

Besonders in der Kirche spielte Frau Doktor ihre Rolle in voller Pracht aus. Während der Herr Pfarrer mit donnernder Stimme seine Predigt hielt, saß sie stets in der ersten Reihe, kerzengerade, als sei ihre Sitzhaltung ein Zeichen für die Moral des gesamten Dorfes. Die Hände gefaltet im Schoß, der Kopf erhoben, fixierte sie die Kanzel mit einem durchdringenden Blick, als wolle sie sicherstellen, dass der Pfarrer keine theologischen Fehltritte beging. Jede Silbe, die aus seinem Mund kam, schien durch den strengen Filter ihrer Erwartungen zu laufen. Und wenn der Herr Pfarrer einmal zu lange über die Vergebung der Sünden sprach – was ja implizit bedeutete, dass jemand im Dorf gesündigt hatte – zog sie leicht die Augenbrauen hoch, als wollte sie damit klarmachen, dass so viel Nachsicht bei bestimmten Gemeindemitgliedern durchaus unangebracht wäre.

Wir Kinder beobachteten sie dabei mit Ehrfurcht. Niemand im Dorf wagte es, so aufrichtig zu sitzen wie Frau Doktor. Es hieß, dass der Herr Pfarrer früher einmal über die Demut des Menschen gegenüber Gott gepredigt und dabei einen kurzen, fast unsicheren Blick in ihre Richtung geworfen hatte – und das war der Moment gewesen, in dem sie sich als moralisches Bollwerk des Dorfes endgültig etabliert hatte.

Wenn sie die Kirche verließ, tat sie dies in der gleichen feierlichen Manier, mit der sie sie betreten hatte, und man konnte schwören, dass sie in ihrer Würde den Herrn Pfarrer um Längen übertraf. Selbst der Altar schien vor ihr ein Stück tiefer zu sinken.

Es war auch diese Aura von Unfehlbarkeit, die auf uns Kinder abfärbte. Wenn wir „Doktor“ spielten, ahmten wir nicht den Herrn Doktor nach – das war viel zu langweilig. Es war immer die „Frau Doktor“, die mit erhobener Stimme und strengem Blick das Kommando führte. Eines Tages überkam es den Ludwig: Mit übermütiger Energie beschloss er, ihre Autorität zu verkörpern. Er schnappte sich ein liniertes Heft, das er als „Krankenschein“ deklarierte, und knallte es mit so viel Eifer auf den Tisch, dass die Seiten aus dem Einband flogen. Im Überschwang hatte er das Ding regelrecht zerfleddert.

Wir wussten sofort, dass das zu Hause garantiert rote Ohren geben würde – Ludwigs Mutter verstand bei Schulsachen keinen Spaß, das war ziemlich teuer damals. Doch in dem Moment war ihm das egal, er wollte „Frau Doktor“ sein! Wir brachen in Gelächter aus, als er es nicht schaffte, ihre unverwechselbare Strenge überzeugend zu verkörpern. Wir lachten ihn aus, „die Frau Doktor hätte dir doch schon längst den Kopf gewaschen!“

Der Respekt, den Frau Doktor genoss, übertraf manchmal sogar den des Herrn Doktors selbst. Man könnte fast sagen, dass sie sich den Titel „Frau Doktor“ nicht nur durch Heirat, sondern durch ein unerschütterliches Auftreten verdient hatte. Ihre Macht lag in der Kombination aus Disziplin, Selbstbewusstsein und einer Selbstverständlichkeit, die niemand infrage stellte. Sie war nicht nur die Frau des Arztes – sie war das Bollwerk der alten Dorfordnung, und jeder, der etwas auf sich hielt, machte sich klug genug, ihre Gunst nicht zu verspielen.

Niemand stellte infrage, dass sie zwar selbst keine medizinische Ausbildung genossen hatte, aber doch als natürliche Autorität in Gesundheitsfragen galt. Denn wer könnte wohl besser wissen, was einem fehlt, als die Frau desjenigen, der das Studium dazu absolviert hat? Ihre Selbstverständlichkeit war entwaffnend – fast schon eine Wissenschaft für sich. Jeder Handgriff saß. Sie ordnete an, sie tröstete, sie tadelte. Wäre sie in einem anderen Leben nicht vielleicht doch eine erstklassige Diagnostikerin geworden, eine Spezialistin für alles und jeden?

Doch die Ironie ihres Daseins offenbarte sich erst, als der Fortschritt – der alte Feigling – sich doch ins Dorf traute. Ein junger Doktor zog zu, frisch promoviert, aus der Stadt, und brachte nicht nur eine medizinische Grundausstattung, sondern auch eine Frau mit, die nicht die „Frau Doktor“ genannt werden wollte. „Fräulein Huber“, darauf bestand sie, sie sei ja schließlich Sozialarbeiterin und keine Ärztin. Das war ja wohl ein Skandal!

Im Dorf war man fassungslos. Wie konnte sie es wagen, sich nicht im Glanz des Titels zu sonnen, der durch Heirat automatisch auf sie abgefärbt war? Das konnte nur eines bedeuten: Entweder war sie zu stolz oder zu faul, sich dem altbewährten Rollenspiel zu fügen, oder – und das war die härteste Hypothese – sie glaubte nicht daran, dass der Titel ihres Gatten ihre Würde hob. Ungeheuerlich!

Die wahre Katastrophe aber brach aus, als die jungen Frauen im Dorf plötzlich ebenfalls damit begannen, den Titel des Ehemannes infrage zu stellen. Die Bäuerinnen wollten nicht mehr als „Frau Bauer“ angeredet werden, die Frau Metzgerin beanspruchte plötzlich, bei ihrem Vornamen genannt zu werden – und sogar die Tochter des Bürgermeisters stellte sich in der Dorfschule nicht mehr als „Fräulein Bürgermeister“ vor, sondern als „Sabine“. Man muss sich das vorstellen! Sabine!

Frau Doktor Müller blieb in ihrem Rüstzeug zurück. Ihr Titel, einst eine Trophäe, war plötzlich nur noch ein Stück dekadenter Folklore. Doch aufgeben wollte sie ihn nicht. Sie bestand darauf, dass der Respekt, der ihr über Jahrzehnte gebührte, weiterhin erhalten blieb – auch wenn ihre „Patienten“ langsam weniger wurden und die neue Generation sich weder um Hochsteckfrisuren noch um Kaschmir scherte.

Am Ende saß sie an ihrem Fenster, mit einer Tasse Kamillentee, und sah zu, wie die Dorfgemeinschaft sie Stück für Stück überholte. Der alte Dorfplatz, einst ihr Reich, wurde renoviert, und die neue Apotheke warb mit „modernen Heilverfahren“ – als hätte es diese in den letzten 50 Jahren nicht auch schon gegeben, nur eben unter ihrem strengen Blick.

Vielleicht ahnte sie irgendwann, dass es nicht der Titel war, der sie ausmachte, sondern die Art und Weise, wie sie ihn trug. Doch das war eine Einsicht, die so spät kam wie der Fortschritt selbst. Und so blieb sie „Frau Doktor“, bis ins hohe Alter – eine lebende Anekdote aus einer Zeit, als der Respekt noch von Titeln statt von Taten abhing.

Denn sie war vor allem eins: Eine Meisterin im Aufrechterhalten des Gewohnten. Das Dorf, ja, das würde diesen Titel wohl ewig in Erinnerung behalten – auch wenn irgendwann keiner mehr so recht wusste, was genau an ihr eigentlich „Doktor“ gewesen war.

Die Ehrfurcht vor der „Frau Doktor“ verschwand erst mit den letzten, die sie noch persönlich gekannt hatten. Und als sie eines Tages nicht mehr über den Dorfplatz marschierte, sondern nur noch ein Name auf einem Grabstein war, zeigte sich, dass selbst der Tod nicht an alten Traditionen rütteln konnte.
Man staunte: Da stand tatsächlich, in geschwungenen Lettern gemeißelt – „Hier ruht Frau Müller, Doktorsgattin“

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